Titel
Geschichte
(lat.
Historia), ein viel umfassender
Ausdruck, mit dem im gewöhnlichen
Leben (seiner Abstammung von »geschehen«
entsprechend) jede nach irgend welchen
Gesichtspunkten zu einer
Einheit zusammengefaßte
Summe von in der Zeit sich vollziehenden
Begebenheiten bezeichnet wird. Allein für den technisch-wissenschaftlichen
Gebrauch erhält das
Wort eine
viel tiefere Bedeutung. Hier steht im
Gegensatz zu der Geschichte
die
Natur, und mit den beiden
Worten
Natur und Geschichte
umfassen wir die
Gesamtheit aller
Erscheinungen.
Diese beiden
Ausdrücke aber verhalten sich zu einander wie die umfassendsten unserm
Geist eigentümlichen
Formen unsrer
Anschauung,
wie
Raum und Zeit. In der einen
Reihe von
Erscheinungen tritt unserm
Geiste das
Moment des Nebeneinanderseins,
das Räumliche, in einer andern das des Nacheinanderseins, das Zeitliche, näher. Ersteres ist bei den
Erscheinungen der
Natur
der
Fall, wo die
Bewegung sich in stetigem
Wechsel, in periodischer Wiederkehr vollzieht, wo, wie bei den
Umläufen der
Himmelskörper, die gleiche
Bewegung sich immer aufs neue wiederholt; letzteres da, wo in der
Bewegung ein kontinuierlicher
Fortschritt hervortritt. Ein solcher vollzieht sich aber (unserm
Geist erkennbar) nur in den
Erscheinungen des Menschenlebens;
nur von ihnen, nur von der menschlich-sittlichen
Welt wird deshalb der
Ausdruck in seinem wissenschaftlichen
Sinn
gebraucht. Dieses
Werden und Sichentwickeln der sittlichen
Welt forschend zu verstehen, die Vergangenheit zu begreifen aus
dem, was in der Gegenwart von ihr noch unvergangen ist, das ist die Aufgabe der
Wissenschaft der Geschichte.
Einteilung und Nutzen der Geschichte.
Je nach dem
Umfang des Gewordenen, das die Geschichtsforschung zu verstehen sucht, kann man die Geschichte
äußerlich
einteilen in
Spezial-,
Partikular- und
Universal- oder
Weltgeschichte. Die Spezialgeschichte
oder
Monographie stellt danach eine
einzelne geschichtliche
Erscheinung ihren
Ursachen, ihrem Verlauf, ihrer
Stellung zu andern oder zu einer Gesamtheit solcher
und ihrer Bedeutung nach dar. Sie ist
Biographie oder
Lebensbeschreibung, wenn sie das
Leben eines Einzelnen
in seiner
Entwickelung, seinem
Thun und
Leiden
[* 2] und seiner Wechselbeziehung zur Zeit schildert. Die Partikulargeschichte
führt
uns die für einen engern oder weitern Lebenskreis, eine Stadt, eine
Landschaft, ein
Volk, einen
Staat, wichtigen und folgenreichen
Begebenheiten vor
Augen.
¶
mehr
Die Universal- oder Weltgeschichte verarbeitet die in den Spezial- und Partikulargeschichten
gewonnenen Ergebnisse zu einem
nach räumlichen und zeitlichen Verhältnissen wohlgeordneten Ganzen. Sie soll uns die Zustände des gesamten menschlichen
Geschlechts, wie sie sich im Lauf der Zeiten gestaltet haben, nach ihren wichtigsten Beziehungen und bedeutungsvollsten Erscheinungen
kennen lehren und so gleichsam die Krone bilden, in welcher alle Strahlen geschichtlicher Darstellung zusammenfließen.
Die Weltgeschichte ist hierdurch schon auf eine philosophische Betrachtungsweise hingewiesen, ja sie kann sich zu einer Philosophie der Geschichte entwickeln, welche in der Geschichte eine aufsteigende Entwickelungslinie nach einem bestimmten Ziel zu erkennen strebt. Diese teleologische Auffassung, als deren bedeutendste Vertreter Herder, Kant, Fichte, [* 4] W. v. Humboldt, Hegel u. a. zu nennen sind, wird freilich von denen bekämpft, welche, wie schon Machiavelli, dann Hellwald, Schopenhauer, Hartmann u. a., die Geschichte nur als einen im ewigen Kreislauf [* 5] sich bewegenden Naturprozeß, als ein Spiel blinder Naturkräfte betrachten, während die religiöse Geschichtsbetrachtung in der Geschichte nur Veranstaltungen Gottes sieht, um den Einzelnen zum Heil oder die Menschheit unter der Leitung der Kirche zur Einigung mit Gott zu führen. Eine neuere Richtung der Geschichtsphilosophie strebt danach, die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Erscheinungen aufzusuchen und ihren Mechanismus zu studieren. Die Vertreter dieser letztern sind in Deutschland [* 6] Herbart und Lazarus, in Frankreich Quételet und Comte, in England Stuart Mill und Buckle. Diese wissenschaftlichen Studien sind freilich noch in ihren Anfängen (s. unten Litteratur).
Schon aus dem Zweck der Universalgeschichte ergibt sich, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der uns erhaltenen Nachrichten den Stoff der Weltgeschichte bilden kann; denn die Weltgeschichte hat nur von denjenigen Thatsachen Notiz zu nehmen, welche aus dem Kulturleben der Menschheit entweder direkt hervorgegangen sind, oder dasselbe unmittelbar betroffen, oder wenigstens mittelbar in günstiger oder ungünstiger Weise beeinflußt haben. Man pflegt diejenigen Völker, welche das Kulturleben der Menschheit vorzugsweise repräsentieren, im engern Sinn des Wortes geschichtliche Völker zu nennen.
Soll nun die Weltgeschichte ein Bild der Menschheit vor uns aufrollen, so wird sie nicht umhin können, bei der besondern Entwickelung der Hauptvölker, solange sie Träger [* 7] der menschlichen Kultur sind, zu verweilen und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in dem Kulturleben der Völker zur Darstellung zu bringen. Die Universalgeschichte zerfällt aber in zwei Hälften, in die alte und die neue. Der Grenzpunkt zwischen beiden, der natürlich nicht auf ein Jahr zurückgeführt werden kann, ist da zu suchen, wo das Christentum unter den die damalige Kultur repräsentierenden Völkern zur Herrschaft gelangt und damit die Entwickelung dieser Völker nach allen Beziehungen eine wesentlich andre Richtung erhält.
Die neue Geschichte teilt sich wieder in zwei Hälften, in die mittlere und in die neuere Geschichte im engern Sinn, deren Scheidepunkt das Ende des 15. und der Anfang des 16. Jahrh. mit den damals eintretenden, die bestehenden Verhältnisse erschütternden und zum Teil umgestaltenden großen Weltbegebenheiten bildet. Keine dieser Perioden der Geschichte bildet aber in dem Sinn ein für sich abgeschlossenes Ganze, daß die eine etwa ohne die Kenntnis der andern verstanden werden könnte; vielmehr ist die Geschichte des menschlichen Geschlechts ihrer Natur nach nur eine einheitliche, jede Epoche derselben wird durch die ihr vorangehenden ebenso bestimmt, wie sie selbst die ihr folgenden bedingt. Die Einteilung der in Perioden hat daher eben nur den Zweck, die erdrückende Fülle des Stoffes in leichter zu übersehende, weil einen kleinern Zeitraum umfassende Gruppen zu sondern.
Die Bedeutung der Geschichte für das praktische Leben leuchtet ein. Wie für den einzelnen Menschen, so ist nicht minder für jede Gesamtheit von solchen (für das Volk, den Staat, das Heer, die Kirche etc.) Selbsterkenntnis die erste Bedingung gedeihlicher Thätigkeit. Ein richtiges Bild ihrer selbst aber erlangt jede solche Gemeinschaft nur in dem Spiegel, [* 8] den ihr die Geschichte vorhält. Darum ist es das Studium der Geschichte, dessen vor allem der Staatsmann bedarf, den man mit Recht den praktischen Historiker genannt hat.
Nicht in dem äußerlichen Sinn freilich darf der Staatsmann die Geschichte studieren, um daraus Analogien zu ziehen, um unter gewissen gegebenen Verhältnissen etwa ebenso zu verfahren, wie man unter äußerlich ähnlichen (ihrem Wesen nach aber vielleicht grundverschiedenen Verhältnissen) einst mit Glück verfahren ist: das würde zu schädlichem Doktrinarismus in der Politik führen. Vielmehr ist für den Politiker das Verständnis der Gegenwart die erste Vorbedingung ersprießlicher Wirksamkeit, und ebendarum bedarf er der Geschichte, denn nur sie vermag ihm dies Verständnis zu gewähren.
Methode der Geschichtsforschung.
Die Thätigkeit des Geschichtsforschers beginnt mit der Herbeischaffung des historischen Materials, welches uns ermöglicht, die Vergangenheit zu verstehen. Dieses Material läßt sich in zwei große Klassen teilen. Entweder es ist aus jener Vergangenheit, mit welcher der Forscher sich beschäftigt, unmittelbar erhalten, ohne daß es in der Absicht geschaffen wurde, von dieser Vergangenheit spätern Geschlechtern Kunde zu geben (Überreste), oder es verdankt seine Entstehung der ausgesprochenen Absicht, der Nachwelt eine Überlieferung von dem Geschehenen zu geben (Quellen).
Zwischen diesen beiden Klassen in der Mitte stehen die Denkmäler, welche Überreste und Quellen zugleich sind. Die Überreste können sehr mannigfaltiger Art sein. Zu ihnen gehören die Ruinen geschichtlich merkwürdiger Städte, wie die von Palmyra, Theben, Pompeji, [* 9] die erhaltenen Kunstwerke alter Zeiten, die in Gräbern und an andern Orten gefundenen Waffen [* 10] und Geräte, dann auch Gesetze, Volksrechte, Beschlüsse von Versammlungen und Behörden, ja alle aus der Vorzeit stammenden Sitten und Gebräuche eines Volkes als Produkte seines staatlichen und sozialen Lebens: ferner das, was uns von dem geistigen Leben eines Volkes, seiner Sprache, [* 11] seiner Religion und seiner Litteratur erhalten ist.
Und von welcher Bedeutung für die Erkenntnis des Kulturlebens einer Nation die Beschäftigung mit seiner Litteratur ist, das bedarf kaum einer weitern Ausführung. Daß zu den Überresten endlich auch die in den Archiven aufbewahrten Akten, Korrespondenzen, Gesandtschaftsberichte, Rechnungen etc. gehören, versteht sich von selbst. Allen diesen Überresten ist eins gemeinsam: sind sie überhaupt echt, so bedürfen sie nur des richtigen Verständnisses, um unmittelbar verwertbare, objektive Zeugnisse für die Vergangenheit zu sein, der sie entstammen.
Gerade dadurch unterscheiden sie sich von den Quellen, welche nicht die Dinge selbst, sondern nur eine subjektive, durch das Medium menschlicher Auffassung gehende und von ihm getrübte Überlieferung von den Dingen geben. Ob die Quellen mündlich oder schriftlich überliefert sind, ist kein prinzipieller Unterschied. ¶
mehr
Stets, wenigstens zu Anfang, durch mündliche Tradition überliefert sind die Sagen des Volkes und seine Lieder. Sie sind unter allen Quellen die subjektivsten, d. h. diejenigen, in denen die Auffassung der Menschen die Darstellung des Geschehenen am meisten beeinflußt hat. Ebenfalls subjektiv, aber in der Weise, daß die Verfasser sich ihrer Subjektivität vollkommen bewußt sind, daß sie die Absicht haben, ihren persönlichen Standpunkt bei der Darstellung von Ereignissen der Vergangenheit hervortreten zu lassen und die letztere durch den erstern zu beeinflussen, sind die politischen, kirchlichen und sozialen Reden, die Broschüren, Pamphlete, Streitschriften etc. und die seit dem 16. Jahrh. immer massenhafter auftretenden Zeitungen: dies alles nicht zu entbehrende, aber nur mit äußerster Vorsicht zu benutzende Geschichtsquellen. Ihrer Natur und Bestimmung nach weit objektiver sind die eigentlichen historischen Schriften, von deren einzelnen Arten unten geredet werden wird; sie sind von allen Quellen geschichtlicher Erkenntnis die am reichhaltigsten fließende.
Zwischen den früher besprochenen Überresten und den zuletzt erwähnten Quellen in der Mitte stehen, wie schon bemerkt ist, die Denkmäler oder Monumente; sie gehören den erstern an, insofern sie aus der Vergangenheit, von der sie Kunde geben, unmittelbar in die Gegenwart hineinragen, den letztern, insofern sie den Zweck haben, eine bestimmte Auffassung von den Geschehnissen ebendieser Vergangenheit der Nachwelt zu überliefern. Zu ihnen sind einmal alle Inschriften zu rechnen, welche für die Kenntnis des Altertums, zumal der orientalischen Völker, der Ägypter, Babylonier, Assyrer, Perser etc., äußerst wertvoll sind; ferner die Medaillen, die Münzen, [* 13] die Wappen, [* 14] die Siegel u. dgl. Für die Zeiten des Mittelalters gehören ebendahin die so sehr wichtigen Urkunden, d. h. schriftliche Aufzeichnungen über abgeschlossene Rechtsgeschäfte.
Das so außerordentlich reichhaltige und mannigfache historische Material zu sichten, sein Verhältnis zu den Vorgängen, von denen es absichtlich oder unabsichtlich Kunde gibt, und demgemäß seinen Wert für unsre Erkenntnis derselben zu bestimmen, ist die Aufgabe der Kritik. Sie hat zunächst aus der Gesamtmasse des vorhandenen Materials dasjenige auszuscheiden, was falsch und unecht, d. h. in Wirklichkeit nicht das ist, wofür es gehalten werden will. Solcher irre führenden Fälschungen hat es zu allen Zeiten gegeben; aus sehr verschiedenen Motiven hervorgegangen, erstrecken sie sich über alle Arten unsers historischen Materials.
Lediglich gewinnsüchtige Absichten waren es, welche schon im Altertum die vielen Münzfälschungen, im Mittelalter einen großen Teil der Urkundenfälschungen hervorriefen. Andre Trugwerke verdanken politischen oder kirchlichen Bestrebungen der verschiedensten Art ihren Ursprung; dahin gehört z. B. die in Frankreich in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. zusammengestellte Sammlung von zum Teil gefälschten päpstlichen Schreiben und Konzilienbeschlüssen, die unter dem Namen der pseudoisidorischen Dekretalien bekannt ist, dahin gehören aber auch die vielen erfundenen Depeschen, Gesandtschaftsberichte etc. Andre Fälschungen alter und neuerer Zeit endlich sind aus dem Bestreben hervorgegangen, einem Geschlecht, einer Stadt, einem Volk eine möglichst weit zurückreichende historische Erinnerung zu verschaffen. Oft ist übrigens nicht das ganze der Prüfung unterzogene Stück eine trügerische Erfindung, vielmehr kann auch ein echtes Dokument oft genug durch Weglassungen oder Zusätze (Interpolationen) entstellt sein. Gelingt es, die Zeit der Fälschung, ihre Motive, ihre Urheber nachzuweisen, so kann in diesem Fall auch die Fälschung selbst ein wertvolles historisches Zeugnis für die Zeit werden, in der sie entstanden ist.
Auf diese erste Untersuchung, welche erweist, ob das historische Zeugnis das ist, wofür es gehalten werden will, folgt sodann die Kritik des Richtigen, welche zu untersuchen hat, ob das uns Überlieferte seinem Ursprung und seinen Bedingungen nach richtig sein kann oder nicht; ihrer Natur nach kommt diese Kritik nur den Quellen und Denkmälern, aber nicht den Überresten gegenüber zur Anwendung. Sie sucht den Parteistandpunkt des Überliefernden, seine Anschauungen und Tendenzen und den Grad seiner Bildung im allgemeinen sowie der besondern Kenntnisse zu bestimmen, welche er von den Thatsachen haben konnte, die er berichtete. Ihr fällt endlich auch die Aufgabe zu, bei den sogen. abgeleiteten Quellen, d. h. denjenigen, welche selbst aus andern Quellen schöpfen und denselben mehr oder minder getreu folgen, den Prozeß der Auflösung in ihre Bestandteile vorzunehmen.
Des so kritisch gesichteten und nach möglichst mannigfachen Gesichtspunkten geordneten Materials bemächtigt sich sodann die Interpretation, deren Bestreben es ist, dasselbe zu verstehen. Sie sucht den Kausalnexus, das Verhältnis von Grund und Folge in den Dingen, zu erkennen;
sie ist bemüht, das unbekannte, fehlende Mittelglied durch Analogie und Hypothese zu ergänzen;
sie will das Geschehene aus der Einwirkung der räumlichen, zeitlichen und sachlichen Bedingungen, unter denen es geschah, erklären;
sie fragt bei den Thatsachen nach den psychologischen Motiven der handelnden Personen;
sie will endlich das, was in den Einzelerscheinungen unklar und unverständlich bleibt, aus den zu Grunde liegenden, den Einzelwillen beherrschenden und treibenden allgemeinen Ideen erfassen.
Die Interpretation ist vielleicht die schwerste Aufgabe des Historikers: die Kritik kann rein verstandesmäßig erlernt und geübt werden, sie ist mehr handwerksmäßige als künstlerische Arbeit;
erst in der Interpretation offenbart sich das Genie des Geschichtsforschers.
[Historische Hilfswissenschaften.]
Bei dieser Thätigkeit des Sammelns, Beurteilens und Interpretierens des historischen Materials bedarf der Geschichtsforscher einer Reihe von Kenntnissen und Fertigkeiten, die auch als besondere Disziplinen sich entwickelt haben, und die man, soweit sie im Dienste [* 15] der Geschichtsforschung stehen, als historische Hilfswissenschaften bezeichnet hat. Dahin gehört zunächst die Geographie, welche uns über die räumlichen Bedingungen aufklärt, unter denen die geschichtlichen Vorgänge sich abspielen. Weiter kommen unter demselben Gesichtspunkt die Ethnographie [* 16] oder Völkerkunde, besonders die Völkerpsychologie, und die Statistik in Betracht. Nicht minder wichtig ist die Wissenschaft von der Teilung und Messung der Zeit, die Chronologie.
Diesen mehr allgemeinen Disziplinen, deren der Geschichtsforscher fast bei jedem Schritt auf seinem Weg bedarf, reihen sich andre an, die ihm für das Verständnis gewisser Gattungen des historischen Materials unentbehrlich sind. Die Paläographie lehrt ihn die anscheinend rätselhaften, nicht zu entwirrenden Schriftzüge entziffern, in denen ein großer Teil dessen aufgezeichnet ist, was ihm zur wichtigen Erkenntnisquelle wird. Die Archäologie zeigt ihm, wie die aus der Vergangenheit übriggebliebenen ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Geschichte.
Die frühesten bekannten Bewohner des Landes waren Stämme der mit den iran. Völkern Kleinasiens verwandten Thraker, unter denen neben den Daciern oder Geten die Mösier eine so hervorragende Rolle spielten, daß die Römer [* 18] nach ihnen das unter Augustus dem Weltreiche angegliederte Land zwischen Donau und Balkan Mösia nannten. Das Stromgebiet der Maritza samt der Landschaft von Sofia gehörte zur Provinz Thracia. Die Ureinwohner wurden an der Donau unter dem Einfluß der Legionslager latinisiert, im Binnenland gräcisiert.
Während des Zeitalters der Völkerwanderungen drangen nach dem Abzug der Germanen (Goten u.s.w.) die Slawen bis zur untern Donau vor und begannen im 6. Jahrh. die oström. Provinzen zu beunruhigen. Im 7. Jahrh. saßen slaw. Stämme schon in Mösien, aber um 680 setzte das türk. Volk der Bulgaren (s. d.), das sich eine Zeit lang auf dem Nordufer der Donau heimisch gemacht hatte, über den Strom und unterwarf die mösischen Slawen. Ihr erster König oder Chan hieß Asparuch.
Seine Nachfolger bedrohten bald das byzant. Kaiserreich; Kaiser Nikephoros I. fiel 811 gegen Chan Krum, der dann auch Konstantinopel [* 19] belagerte. Gegen Krums Nachfolger Omortag hatte Ludwig der Fromme sich in den von Karl d. Gr. eroberten Saveländern zu wehren. Im 9. Jahrh. traten friedlichere Verhältnisse ein, wo der Bulgarenfürst Boris 864 von den Griechen das Christentum annahm und selbst als Michael getauft wurde. Die kriegerischen Gelüste der Bulgaren erlitten durch den Religionswechsel keinen Eintrag; Michaels Sohn, Symeon (890–927), bedrängte dreimal die byzant.
Hauptstadt und eroberte alles Gebiet bis zum Adriatischen Meer in Albanien; Serbien [* 20] und Byzanz waren ihm tributpflichtig. Er und seine Nachfolger nannten sich Zaren, Kaiser; seiner Kirche wurde die Autokephalie (Unabhängigkeit vom Patriarchen von Konstantinopel) zugestanden. Aber unter Symeons Sohn Peter riß sich der macedon.-epirotische Westen des Bulgarenreichs los. 971 unterwarf Kaiser Johannes Tzimiskes Ostbulgarien mit der Hauptstadt Preslav (bei Schumla) und machte es zu einer Provinz, während sein Nachfolger Basilius II. nach harten Kämpfen das westbulgar. Reich mit der Hauptstadt Ochrida 1018 eroberte. Bei dem Zerfall des Byzantinischen Reichs nach der Glanzperiode der Komnenen riß sich Donau-Bulgarien 1186 unter den Brüdern ¶
mehr
722 Peter und Asen los, und so entstand ein neues Bulgarenreich mit der Residenz in Tirnova. Dasselbe hatte seine Glanzperiode, als Asen II. (1218–41) durch Eroberungen im Westen beinahe die Grenze Symeons wiederherstellte. Aber noch im 13. Jahrh. wurde B. durch die Byzantiner sehr eingeschränkt und litt viel durch die Einfälle der Tataren Südrußlands, im 14. Jahrh. auch durch die der kleinasiat. Türken. Zar Joannes Schischman wurde (um 1360) dem türk. Sultan Murad I. tributpflichtig, worauf Bajazet I. 1393 dem Reiche von Tirnova ein Ende machte; Schischman starb in der Gefangenschaft.
Sein Bruder, Zar Sratzimir, Teilfürst von Vidin, wurde 1396 abgesetzt. – Gemäß der polit. Ereignisse gab es im alten B. Zwei Nationalkirchen, die eine unter dem Zaren Symeon in Donaubulgarien, die im 10. Jahrh. nach Ochrida in Macedonien übertragen wurde und dort blieb. Sie suchte sich später mit der von Kaiser Justinian privilegierten Kirche von Justiniana prima zu identifizieren und wurde erst 1767 mit dem griech. Patriarchat vereinigt. Eine zweite autokephal-bulgar. Kirche entstand 1186 in Tirnova, wurde aber um 1570 dem Konstantinopeler Patriarchat einverleibt.
Unter der türk. Herrschaft büßten die Bulgaren allmählich alle ihre nationalen und religiösen (das bulgar. Patriarchat) Eigentümlichkeiten ein. Eine Wendung zum Bessern trat hierin erst ein, als 1835 aus Beiträgen zu Odessa [* 22] seßhafter bulgar. Kaufleute die erste nationale Primärschule zu Gabrovo gestiftet wurde; bald brachte es die jungbulgar. Bewegung zu einer, wenn auch meist aus Volksschriften und Schulbüchern bestehenden Litteratur; 1844 erschien die erste bulgar. Zeitschrift.
Die Zahl der Volksschulen nahm stetig zu. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse erlebten einigen Aufschwung; das Donauwilajet war in neuester Zeit eine der wenigen Gegenden des Osmanischen Reichs, in denen sich ein Fortschritt der Kultur bemerklich machte. Hierzu kam unter der Bevölkerung [* 23] eine lebendige Bewegung auf kirchlichem Gebiete. Die hohe Geistlichkeit B.s war seit Mitte des 18. Jahrh. fast ausnahmslos griech. Nationalität und genoß beim Volke nicht das beste Ansehen.
Unter Berufung auf ihr altes Recht, nationale Bischöfe zu haben, machten deshalb die Bulgaren namentlich seit dem Krimkriege (1853–55) dem griech. Klerus heftige Opposition, sodaß die Pforte 1870 sich veranlaßt sah, die Einsetzung eines autonomen bulgar. Kirchenoberhauptes mit dem Titel «Exarch» zu genehmigen, doch erst 1872 bestätigte der Sultan den Metropoliten Antim als unabhängigen bulgar. Exarchen. Hand [* 24] in Hand mit der religiösen Bewegung ging der Drang nach polit. Freiheit; mißlungene, meist von den Emigranten in Bukarest [* 25] angezettelte Aufstandsversuche an der serb. Grenze und im Balkan waren die ersten Lebenszeichen davon. Gleichzeitig bildeten sich große Geheimbünde in der Art der griech. Hetärie (s. d.).
Nach dem Ausbruch des Aufstandes in Bosnien [* 26] und der Herzegowina im Sommer 1875 nahm die Gärung in B. allmählich bedeutend zu. Ohne genügende Leitung und Bewaffnung revoltierten Anfang Mai 1876 unter Führung der Geheimbündler die Orte der Sredna Gora und der westl. Rhodope, jedoch wurde diese Erhebung von türk. Truppen schnell unterdrückt; andere Empörungen im Balkan bei Gabrovo und Kotel hatten keinen günstigern Ausgang. Nun folgten bis Ende Mai nördlich und südlich vom Balkan fürchterliche Metzeleien unter der zum größten Teil gänzlich unbewaffneten christl. Bevölkerung durch den aufgebotenen türk. Landsturm, zum Teil auch durch ihre mohammed. Landsleute, die Pomaken; gegen 60 Ortschaften wurden zerstört, über 10000 Menschen jeden Alters und Geschlechts ermordet; das schlimmste Schicksal erlitt die Stadt Batak in der Rhodope.
Das nächste Resultat der in ganz Europa [* 27] durch die bulgar. Greuel hervorgerufenen Entrüstung war der Vorschlag der im Dez. 1876 zu Konstantinopel zusammengetretenen Konferenz der Großmächte, zwei autonome bulgar. Provinzen Tirnova und Sofia mit christl. Gouverneuren zu bilden; die Pforte ging jedoch hierauf nicht ein, und der Russisch-Türkische Krieg brach aus. Der Präliminarfriede zu San Stefano vom der ihn beendigte, setzte die Errichtung eines autonomen, der Pforte tributären Fürstentums B. fest, das nicht nur Donau-Bulgarien, sondern auch den größten Teil von Thrazien und fast ganz Macedonien umfassen sollte; doch bestimmte der Berliner [* 28] Friedensvertrag (s. Berliner Kongreß) vom daß das selbständige, aber dem Sultan tributpflichtige Fürstentum B. nur das Land zwischen Donau und Balkan umfassen, aber das südlich vom Balkan und östlich von der Rhodope gelegene, der Mehrheit der Bevölkerung nach von Bulgaren bewohnte Land der Türkei [* 29] verbleiben, jedoch als autonome Provinz Ostrumelien (s. d.) unter einem christl. Gouverneur eingerichtet werden sollte. Die von Bulgaren bewohnten Landschaften Macedoniens blieben unmittelbares Gebiet der Türkei.
Die vom russ. Kommissär, Fürsten Dondukow, in Tirnova eröffnete konstituierende Notabelnversammlung hatte die neue Verfassung des Fürstentunis zu beraten, wofür ein von der russ. Regierung ausgearbeiteter Entwurf die Grundlage bildete. Am 28. April wurde die neue Verfassung nach heftigen Parteikämpfen von sämtlichen Abgeordneten unterzeichnet und die Versammlung geschlossen. Sofort trat 29. April eine neugewählte große Nationalversammlung zur Fürstenwahl zusammen und wählte von den drei vorgeschlagenen Prinzen: Prinz Reuß, [* 30] Prinz Waldemar von Dänemark [* 31] und Prinz Alexander von Battenberg, einstimmig den letztern.
Dieser nahm die Wahl an, erhielt vom Sultan den Investitur-Ferman, leistete in der Nationalversammlung zu Tirnova 9. Juli den Eid auf die Verfassung, hielt 13. Juli seinen Einzug in der Hauptstadt Sofia und übernahm vom Fürsten Dondukow die Regierung. Indessen ruhten die in Tirnova entfesselten Parteifehden nicht; die Liberalen verteidigten die Verfassung, die Konservativen wollten eine Einschränkung derselben und wurden vom Fürsten unterstützt, dessen Popularität dadurch sehr litt.
Die beiden ersten Ministerien, das konservative Burmows und das gemäßigte des Bischofs Kliment, waren unhaltbar. Im April 1880 trat ein liberales Ministerium ein mit Zankow, später Karawelow an der Spitze. Die unaufhörlichen Parteiungen veranlaßten Alexander durch ein Manifest vom seine Abdankung anzukündigen, mit dem Bedeuten, daß er eine Neuwahl nur unter bestimmten Bedingungen annehmen werde. Gegen die Opposition hielt ihn während des darauf folgenden Wahlkampfes meist die Unterstützung der Großmächte, besonders Rußlands, welches die Heeresverwaltung seit der Besetzung in den Händen behalten hatte und durch seine Kriegsminister in B. einen starken Einfluß ausübte. Die große Nationalversammlung zu ¶
mehr
723 Šistov am 13. Juli nahm die Bedingungen durch Acclamation an. Die Verfassung wurde auf 7 Jahre suspendiert und dem Fürsten außerordentliche Vollmachten erteilt. Aber das neue aus Russen und gemäßigten Bulgaren gebildete Ministerium wurde bald von den Konservativen bekämpft und die liberale Emigration unter Karawelow in Ostrumelien bekämpfte in den dortigen Journalen heftig die Zustände im Fürstentum. Im Juli 1882 trat das Ministerium des Generals Sobolew ein mit General Baron Alexander Kaulbars als Kriegsminister, sonst aus bulgar. Konservativen bestehend.
Doch diese russ. Generale überwarfen sich bald mit den Konservativen und stellten im März 1883 ein neues provisorisches Kabinett aus farblosen Bulgaren zusammen. Endlich versöhnten sich die Parteien, durch das fürstl. Manifest vom wurde die suspendierte Verfassung von Tirnova wiederhergestellt, und da die Generale sofort ihre Demission einreichten, ein Koalitionsministerium mit Zankow an der Spitze eingesetzt. Bald riß sich aber von Zankows Liberalen die Mehrzahl als Radikale unter Karawelows Führung los.
Bei den Wahlen 1884 wurde Zankow geschlagen und im Juli trat ein radikales Kabinett unter Karawelow ein, unter dessen Verwaltung sich bald eine starke panbulgar. Bewegung gegen die Sonderexistenz Ostrumeliens und zur Befreiung Macedoniens bemerkbar machte. Die Russen schürten indessen gegen den Fürsten Alexander, der sich mit ihnen in polit. und militär. Fragen ganz überworfen hatte, und wurden darin von Resten der Partei Zankows unterstützt. In Ostrumelien herrschte inzwischen eine starke Gärung gegen die Provinzialregierung.
Zacharias Stojanow organisierte ein geheimes Komplott, an welchem zahlreiche Landtagsabgeordnete und die Oberoffiziere der Provinzialmiliz teilnahmen. In der Nacht vor dem brach in Philippopel eine unblutige Revolution los, der Generalgouverneur Gabriel Krestowitsch wurde von der Miliz im Regierungshause gefangen genommen, eine provisorische Regierung unter Stranski übernahm die Verwaltung und proklamierte die Union Rumeliens und B.s unter dem Fürsten Alexander.
Fürst Alexander nahm den Ruf der Rumelioten an und traf bereits 21. Sept. in Philippopel ein. Die Großmächte erklärten sich, mit Ausnahme von England, gegen diese Verletzung des Berliner Vertrags, aber die Botschafterkonferenzen in Konstantinopel blieben ohne Resultat. Der russ. Kaiser entsetzte den Fürsten aller seiner Würden in der russ. Armee und berief die zahlreichen russ. Stabs- und Instruktionsoffiziere aus B. und Rumelien zurück. Die Pforte verhielt sich gleichgültig. In Serbien und Griechenland [* 33] verlangte eine starke Bewegung auch einen Länderzuwachs.
König Milan suchte den Krieg als Ausweg bei den unerfreulichen innern Zuständen seines Staates. Es folgte 13. bis der 14tägige Serbisch-Bulgarische Krieg. Die Serben rückten unter General Leschjanin gegen Vidin und unter General Jowanowitsch aus Pirot, Nisch und Branja konzentrisch gegen Sofia. Aber Vidin wurde von Kapitän Usunow tapfer verteidigt, und vor Sofia fanden die Serben längst vorbereitete ausgedehnte Schanzwerke bei Slivnica, hinter denen sich rasch die aus Rumelien ausrückende bulgar.-rumel.
Armee unter dem Oberbefehl des Fürsten Alexander sammelte. Nach dreitägigem Kampfe wurden die Serben 13. Nov. vor Slivnica zurückgeworfen, worauf Fürst Alexander ihnen nachrückte und in einer zweitägigen heißen Schlacht die serb. Stadt Pirot besetzte, bis die diplomat. Sendung des österr. Gesandten in Belgrad, [* 34] Grafen Khevenhüller, das Blutvergießen beendigte. Der Friede wurde in Bukarest unter Vermittelung der Pforte erneuert, mit einem einzigen Artikel über die Herstellung friedlicher Beziehungen.
Inzwischen verständigten sich die Bulgaren auch mit der Pforte in einem Abkommen, das von den Großmächten durch das Konstantinopeler Protokoll vom 5. April bestätigt wurde. Danach war der Sultan bereit, den Fürsten von B. ohne Nennung des Namens des Fürsten Alexander von 5 zu 5 Jahren zum Generalgouverneur von Ostrumelien zu ernennen, worauf Schakir Pascha 25. April den Ernennungsferman in Sofia feierlich überreichte. Die Organisation Rumeliens wurde mit der des Fürstentums in aller Eile vollständig verschmolzen und die bulgar. Nationalversammlung durch rumel. Abgeordnete verstärkt.
Die Parteikämpfe ruhten aber nicht. Eine starke Opposition gegen den Fürsten und gegen Karawelow war mit der Form der vollzogenen Vereinigung nicht einverstanden. Im Heere gab es viel Unzufriedenheit unter den Offizieren aus Anlaß der Beförderungen und Ordensverteilungen nach dem Kriege. Während eine Partei zur Proklamierung der Unabhängigkeit B.s unter Alexander als König drängte, beschäftigten sich die Zankowisten und die unzufriedenen Offiziere mit Plänen zum Sturz des Fürsten.
In der Nacht nach dem umzingelten die Verschwörer mit der Kriegsschule, dem Infanterieregiment Struma und dem Artillerieregiment Nr. 1 das Palais von Sofia, nahmen den Fürsten gefangen, brachten ihn nach Reni in Russisch-Bessarabien, wo ihm die russ. Regierung die Weiterreise über Lemberg [* 35] nach Hessen [* 36] gestattete. Indessen gelang es den Meuterern, an deren Spitze der Major Grujew und der Kapitän Benderew standen, nicht eine feste Regierung einzusetzen, ja sie ließen sich nach wenigen Tagen von Major Popow mit den Truppen des Sommerlagers von Slivnica, obwohl derselbe keine Artillerie hatte, aus Sofia nach Pernik hinausmanövriercn, wo sie bald ohne Kampf auseinandergingen.
Inzwischen war im ganzen Lande eine Gegenrevolution im Gange, an deren Spitze der Kammerpräsident Stambulow in Tirnova und der Oberstlieutenant Mutkurow in Philippopel standen, die den Fürsten Alexander aus Lemberg eilig ins Land zurückriefen. Alexander traf über Rustschuk und Philippopel in einem Triumphzug 3. Sept. wieder in Sofia ein, hatte aber zuvor durch einen abweisenden Brief des russ. Kaisers, dem er unklugerweise seinen Thron [* 37] zur Verfügung gestellt hatte, alle Hoffnung auf ein Einverständnis mit Rußland verloren, dankte ab und reiste, feierlich begleitet, über Vidin ab. Vor der Abreise setzte er eine aus Stambulow, Mutkurow und Karawelow bestehende Regentschaft ein, sowie ein Ministerium unter dem Präsidium von Radoslawow.
Die Regentschaft geriet bald in Konflikt mit dem russ. Vertreter General Nikolaus Baron Kaulbars, der schroff mit den Forderungen seiner Regierung auftrat und 20. Nov. die diplomat. Beziehungen Rußlands mit B . abbrach, die seitdem nicht mehr erneuert wurden. Eine große Nationalversammlung in Tirnova wählte 10. Nov. den dän. Prinzen Waldemar zum Fürsten, derselbe nahm aber die Wahl nicht an. Während die Regentschaft jede Bewegung im ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Titel
Geschichte.
A. Erste Hauptepoche. Von den ältesten Zeiten bis zur römischen Herrschaft. Die Anfänge der Geschicke des griech. Volks sind von einem Dunkel bedeckt, in welches zuerst nur durch die vergleichende Sprachforschung, dann durch die kritische Prüfung der Stamm- und Heldensagen der verschiedenen Zweige der griech. Nation, neuerdings durch die Ausgrabungen in Mykenä, [* 38] Tiryns, Orchomenos, Ithaka ein etwas helleres Licht [* 39] gebracht worden ist. Aber auch für die Zeiten, aus welchen schon mehr historische, freilich noch mit Sagenstoff reichlich gemischte Erinnerungen im Bewußtsein des Volks sich erhalten hatten, für die Zeiten der letzten großen Wanderungen, fehlt es noch an der Grundbedingung einer streng histor.
Darstellung, an einer irgendwie beglaubigten Chronologie. Erst seitdem schriftliche Aufzeichnungen gleichzeitiger Ereignisse einen festen Anhaltepunkt für die chronol. Bestimmung der Begebenheiten geben, d. h. von der ersten gezählten Olympiade (776 v. Chr.) an, kann von einer Geschichte G.s im strengern Sinne des Wortes die Rede sein, aber bei der Kärglichkeit der Aufzeichnungen sind selbst in jener Periode die Einzelheiten der griech. Geschichte immer noch vielfach unsicher.
1) Bis zum Beginn der Olympiadenrechnung. Die Griechen sind ein Zweig der großen indo-europ. oder arischen Völkerfamilie, also mit Indern, Iraniern, Italikern, Kelten, Germanen, Litauern und Slawen einem Urstamm entsprossen und mit ihnen wahrscheinlich in uralten Zeiten in gemeinsamen Wohnsitzen vereinigt, wo sie schon einen gewissen Grad der Kultur erreicht hatten. Die Bildung der Familie und der Verwandtschaftsgrade, die Entwicklung der Viehzucht [* 40] und des Hirtenlebens, die Anfänge des Ackerbaues und des Hütten- und Häuserbaues, auch schon die Ausbildung gewisser religiöser Ideen, wie die persönliche Auffassung der Naturerscheinungen, insbesondere die Verehrung des himmlischen Lichts (Tageslichts) als einer Gottheit, gehören, wie die vergleichende Sprach- und Mythenforschung gezeigt hat, dieser Zeit des gemeinschaftlichen Lebens der Indogermanen (s. d.) an. Von der Annahme, daß nach der Scheidung des indogerman. Urvolks der griech. Zweig längere Zeit mit dem italischen als gräco-italischer Volksstamm in gemeinschaftlichen Wohnsitzen verbunden gewesen sei, ist man jetzt zurückgekommen. (S. Gräco-italisch.)
In Geschichte selbst, wohin jedenfalls die verschiedenen Gruppen der Nation nicht gleichzeitig, sondern nacheinander in Zwischenräumen eingewandert sind (und zwar wahrscheinlich von der Nordseite der Balkanhalbinsel [* 41] her), findet man in den ältesten Zeiten eine ganze Reihe von Stämmen wesentlich gleichartiger Natur, die man später unter dem Namen der Pelasger zusammenfaßte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dieselben von den spätern Achäern und Hellenen ethnographisch nicht verschieden waren. Es scheint das Richtigere zu sein, von den Griechen in der pelasgischen (uralten), der achäischen und der hellen. Zeit zu sprechen. Die Griechen der pelasgischen Zeit lebten in primitiver Einfachheit, in patriarchalischen Zuständen unter Häuptlingen, teils als Ackerbauer, teils als Hirtenstämme in den Hochlandschaften; ihre Götter wurden zwar persönlich gedacht, aber noch als Naturgewalten verehrt.
Die allmählich sich entwickelnden Gegensätze und Kämpfe zwischen den Hirtenstämmen und den Bauern der Niederungen im Innern, dazu verschiedene Verschiebungen der Stämme in den griech. Ländern, und ganz besonders von Asien [* 42] her der Einfluß der höher civilisierten Phönizier, die als See- und Handelsmacht von Cypern [* 43] her um 1300 v. Chr. Kreta und Rhodus besaßen, die das Achäische Meer beherrschten, und seit 1200 v. Chr. auf vielen Stellen der griech. Ost- und Westküste sich festsetzten, führten endlich zu einer gewaltigen innern Veränderung der Altgriechen.
Aus den pelasgischen Bauern und Hirten gehen die ritterlichen und kriegerischen Achäer (s. d., die Edlen) hervor, die allmählich stärkere Staatswesen unter kriegerischen Königen, namentlich im östl. Peloponnes, ausbilden, viele Kulturelemente von ihren phöniz. Lehrmeistern annehmen, stattliche Burgen [* 44] oder Larissen (wie zu Mykenä) aufführen, endlich (seit 1100 v. Chr.) die Phönizier von ihren Küsten gänzlich verdrängen. Als mächtigere Staaten kennt man die der Minyer in Böotien (Orchomenos), der Ionier in Attika (wo die Sage den Theseus als Gründer des Einheitsstaates nennt) und der Achäer im östl. Peloponnes. Nach der Heldensage vereinigten sich auch mehrere Staaten unter der Führung eines mächtigern zu größern überseeischen Expeditionen, wie solche vielleicht den histor. Kern der Sagen vom Trojanischen Kriege (s. Troja) [* 45] bilden. Auch die internationalen ¶
mehr
Verhältnise der griech. Staaten untereinander wurden nach humanern Grundsätzen geregelt durch Bildung sog. Amphiktyonien (s. d.). Von den innernpolit. und socialen Verhältnissen der achäischen Staaten geben die Homerischen Gedichte ein wohl ziemlich getreues Bild. Danach war die Regierungsform durchgängig die monarchische. An der Spitze jedes Staates stand ein dem angesehensten Geschlecht, das seinen Ursprung gewöhnlich auf eine Gottheit zurückführte, entsprossener König, dessen Würde erblich war; er war Heerführer im Kriege und hatte im Frieden Recht zu sprechen und gewisse Opfer für das ganze Volk, wie der Hausherr für seine Familie, darzubringen.
Seine Obliegenheiten übte er unter Mitwirkung der Häupter der angesehensten Familien, der Edlen, die seinen Rat bildeten, welcher sich in der Regel in der Behausung des Königs beim Mahle, womit immer ein Opfer verbunden war, versammelte. Bei besonders wichtigen Fragen wird auch die Gemeinde zur Volksversammlung berufen; in derselben sprechen aber nur die Edlen, das Volk giebt nur seinen Beifall oder sein Mißfallen zu erkennen, eine Abstimmung findet nicht statt.
Der Fremde ist ohne besondere Verträge rechtlos, nur durch die Scheu vor den Göttern vor Verletzung geschützt; ebenso die unfreie Dienerschaft, Sklaven und Sklavinnen, deren es wenigstens in den Häusern der Herrscher eine ziemlich bedeutende Zahl gab. Überhaupt ist das Recht in dieser Zeit noch nicht in bestimmte Formeln, Gesetze, fixiert, sondern aufs engste mit den religiösen Anschauungen verbunden: Recht und Sitte fallen noch zusammen. Fast alle Vergehen und Verbrechen, unter Umständen auch Mord und Totschlag, können durch eine Buße an den Verletzten oder seine Rechtsnachfolger gesühnt werden.
Die meisten der alten griech. Staaten und Stämme wurden heftig erschüttert oder auch ganz zertrümmert durch die Wanderungen, welche neue, noch rohere, aber kräftigere Stämme herzuführten. Der erste Anstoß zu diesen gewöhnlich als die dor. Wanderung oder auch als Rückkehr der Herakliden (s. d.) bezeichneten Umwälzungen kam von Nordwesten her, indem der ursprünglich in Thesprotien (in Epirus) seßhafte Stamm der Thessaler (s. Thessalien), durch Illyrer aus ihren Wohnsitzen gedrängt, gegen Osten über den Pindos in die später nach ihnen Thessalien genannte Landschaft zog und die bisherigen äol.
Bewohner derselben teils zu hörigen Bauern (Penesten) machte, teils zur Auswanderung nötigte; namentlich zog der Stamm der Böoter oder Arnäer südwärts in die Landschaft, die von ihnen den Namen Böotien (s. d.) erhielt. Die Einwanderung der Thessaler gab auch den am Olymp sitzenden Doriern (s. d.) den Anstoß, nach Süden vorwärts zu dringen, zuerst nach dem Öta und Parnaß. Später sollen sie nach der Tradition in einem großen Heerhaufen unter Führung der drei Söhne des Aristomachus, Temenos, Kresphontes und Aristodemos, durch Ätolien, wo sich ihnen Oxylos mit einer Schar Ätolier angeschlossen habe, und über den korinth.
Meerbusen nach dem Peloponnes gezogen sein, wo sie durch eine einzige Schlacht, in welcher Tisamenos, der Sohn des Orestes, gefallen sei, den größern Teil der Halbinsel gewonnen und durch Los unter sich geteilt hätten; dem Temenos sei Argos, dem Kresphontes Messenien, den Söhnen des unterwegs verstorbenen Aristodemos, Eurysthenes und Prokles, Lakonien zugefallen; dem Oxylos habe man für seinen Beistand im Kampfe die Landschaft Elis überlassen. Diese Überlieferung leidet aber an starken innern Unwahrscheinlichkeiten und steht auch mit mannigfachen Lokalsagen der Peloponnesier selbst in Widerspruch. In Wahrheit sind die Eroberer (die nach der alten Chronologie gegen Ende des 11. vorchristlichen Jahrh., wahrscheinlich aber erst gegen 1000 v. Chr. sich in Bewegung setzten) nur unter langen und schweren Kämpfen die neuen Herren im Peloponnes geworden.
Die Dorier scheinen von Ätolien aus zusammen mit ätol. Scharen, die, weil auch ihr Land von den Illyrern überschwemmt wurde, die Heimat verlassen mußten, über die Meerenge von Rhion nach Elis, von da, nachdem die Ätoler in Elis sich niedergelassen, am Flusse Alpheus aufwärts, nach dem südl. Arkadien gezogen zu sein, wo ihnen die tapfern Bergbewohner Widerstand leisteten. Infolgedessen teilten sie sich wahrscheinlich in zwei Heerhaufen, deren einer mit relativ leichter Mühe die friedlichen Einwohner der reichen Ebene Messeniens unterwarf, während der andere, dem Laufe des Eurotas folgend, sich an der Stelle, wo dann die Stadt Sparta sich erhob, festsetzte und von hier aus lange und hartnäckige Kämpfe mit der achäischen Bevölkerung, deren Hauptstadt Amyklä war, zu bestehen hatte.
Eine andere Schar der Dorier unternahm ihren Eroberungszug gegen die argivische Halbinsel offenbar zu Schiffe [* 47] und setzte sich an der Südküste von Argolis fest, beim sog. Temenion, von wo sie nach längerm Kampfe die Stadt Argos gewannen. Von dieser aus brachten sie allmählich, meist auf gütlichem Wege, die kleinern Staaten der Landschaft an sich; an der Nordküste eroberten sie endlich von dem Hügel Solygeios aus Korinth. [* 48] Die nächste Folge dieser Eroberungen war eine starke Auswanderung, besonders der angesehensten Geschlechter der alten Bevölkerung, aus den eroberten Staaten.
Die aus dem südl. Peloponnes Ausgewanderten setzten sich zum Teil in der nördlichsten Landschaft des Peloponnes, die von ihnen den Namen Achaia erhielt, fest und nötigten wieder die ältere ion. Bevölkerung dieser Landschaft, über den Isthmus zu den stammverwandten Athenern zu flüchten; ein anderer Teil verließ den Peloponnes ganz und zog in Verbindung mit Angehörigen der nördl. Stämme unter Führung von Fürsten aus dem Stamme der Pelopiden gegen Osten, wo sie auf der Insel Lesbos und auf den Küsten des westl. Kleinasiens sich ansiedelten.
Von Korinth aus versuchten die Dorier auch nach dem mittlern Geschichte vorzudringen. Es gelang ihnen, die kleine Landschaft Megaris sich zu unterwerfen; aber ihre Versuche zur Eroberung Attikas scheiterten an dem heldenmütigen Widerstand der Athener. Die Sage läßt in diesen Kämpfen den attischen König, Kodros, den Heldentod sterben. Bald nach dieser Zurückweisung der Dorier zogen dann zahlreiche ion. Scharen, ebenfalls mit abenteuerlustigen Genossen aus andern Stämmen vermischt, teils aus dem armen und großenteils wenig fruchtbaren Attika, teils aus Euböa, nach den reichen Küstenlandschaften Kleinasiens hinüber, wo sie 12 Städte gründeten, welche unter sich zu einem Bunde (der ion. Dodekapolis) zusammentraten: Milet, Myus und Priene an der Küste von Karien, Ephesos, [* 49] Kolophon, Lebedos, Teos, Klazomenä, Phokäa und Erythrä an der Küste von Lydien, und Samos und Chios auf den gleichnamigen Inseln. Diese ion. Kolonien, denen sich frühzeitig das ursprünglich äol. Smyrna anschloß, ¶
mehr
erreichten bald eine hohe Stufe der Macht und Kultur; sie wurden später die Ausgangspunkte neuer Koloniegründungen, wie namentlich die Milesier seit dem Beginn der folgenden Periode an der Propontis und an den Küsten des Schwarzen Meers Hauptniederlassungen gründeten; in ihnen entwickelte sich auch zuerst die epische Poesie (Homer) zu hoher Blüte. [* 51] Auch die Dorier beteiligten sich an diesen Seezügen nach den Küsten Kleinasiens, indem sie, hauptsächlich von Argolis aus im Verein mit der dort uransässigen ion. Bevölkerung, die sog. dorische Hexapolis, d. h. sechs zu einem Bunde vereinigte Städte (Halikarnassos und Knidos auf der kar. Küste, Kos auf der Insel dieses Namens, und Jalysos, Kameiros und Lindos auf der Insel Rhodos) gründeten.
Doch überwog in Halikarnaß die ion. Bevölkerung so sehr, daß nicht nur alle Inschriften dieser Stadt in ion. Sprache geschrieben sind (auch der hier geborene Herodot verfaßte sein Geschichtswerk ionisch), sondern auch ihre Verbindung mit den mehr dor. Nachbarstädten früh gelöst wurde. Alle diese Kolonisationen scheinen sich indes bis 900 v. Chr. vollzogen zu haben. Von den dor. Staaten im Peloponnes war jahrhundertelang Argos (s. d.) der mächtigste und blühendste. In Messenien (s. d.) hatten die Dorier sich mehr als irgendwo sonst mit den ältern Einwohnern verschmolzen und unter dem Einfluß der reichen, üppigen Landesnatur ihren kriegerischen Charakter mehr zurücktreten lassen; ihr Herrscherhaus schloß sich eng an die Stämme des südl. Arkadien an. In Sparta (s. d.) waren neben den langen Kämpfen mit der achäischen Bevölkerung bedeutende Unordnungen und Parteikämpfe zwischen den Doriern selbst eingetreten, denen erst durch die (von der gewöhnlichen Chronologie auf 884, richtiger erst nach 825 v. Chr., angesetzte) Gesetzgebung des Lykurgus ein Ende gemacht wurde, die die Verfassung und Sitte der Spartaner neu regelte und ihre militär. Kraft [* 52] so sehr steigerte, daß sie etwa 800–770 v. Chr. endlich das mittlere und südl. Eurotasgebiet erobern konnten. Der in den Bergen [* 53] östlich und westlich des Eurotas wohnende Teil der besiegten Achäer wurde zu freien, aber zinspflichtigen und politisch rechtlosen Unterthanen (Periöken), die Bauern der Ebene selbst zur Leibeigenschaft herabgedrückt.
2) Von der ersten gezählten Olympiade bis zum Beginn der Perserkriege (776–500 v. Chr.). Die Hauptcharakterzüge dieser Periode bilden die Ausbreitung der Griechen nach Osten wie nach Westen auf der Küste des Mittelmeers [* 54] durch Gründung zahlreicher Kolonien;
der Sturz des alten Königtums in fast allen Staaten (um die Mitte des 8. Jahrh.), dem eine mehr als hundertjährige Herrschaft des Adels folgte;
das Auftauchen und der Sturz der Tyrannenherrschaft in vielen griech. Staaten;
endlich das Emporsteigen von Sparta zur Führerschaft (Hegemonie) im Peloponnes.
Was zunächst die Kolonien anlangt, so fällt in den Anfang dieser Periode, ins 8. und 7. Jahrh. v. Chr., die Gründung der zahlreichen Handelsniederlassungen der asiat. Ionier (namentlich der Milesier) in der Propontis und an den Gestaden des schwarzen Meers (Abydos, Lampsakos, Kyzikos, Kardia, Apollonia, Odessos, Tomi, Istros, Tyras, Olbia, Sinope, Trapezunt, Phasis, Pantikapaion) und die mehrerer bedeutender Kolonien in denselben Gegenden von Megara aus (Chalcedon oder Kalchedon, Byzantion, Selymbria und Mesembria); ferner die Besiedelung der thraz.
Halbinsel Chalkidike von den euböischen Städten Chalkis und Eretria aus; endlich die Anlage griech. Städte in Unteritalien und auf Sicilien, ein Unternehmen, an welchem sich die verschiedensten griech. Stämme beteiligten. (S. Großgriechenland.) Auf der Nordküste Afrikas wurde von einer Schar Ansiedler von der Insel Thera aus unter Führung des Battos um 630 die griech. Stadt Kyrene begründet, die bald der Mittelpunkt eines blühenden Reichs wurde. Ägypten [* 55] wurde durch den mit Hilfe griech. Söldner auf den Thron gelangten König Psammetich (nach 655) den Ioniern zu freiem Verkehr und auch zur Niederlassung in Naukratis eröffnet.
Mit dieser gewaltigen Entwicklung des griech. Elements nach außen war ein mächtiger Aufschwung im Innern verbunden, der zu bedeutenden Umgestaltungen, namentlich in den polit. Verhältnissen führte. In den meisten griech. Staaten (nur Sparta und Argos bilden eine Ausnahme davon, doch scheint in dem letztern seit dem Tode des Pheidon, welcher um die Mitte des 8. Jahrh, die ganze Landschaft Argolis unter seinem Scepter vereinigt hatte, das Königtum zu einer bloßen Form herabgesunken zu sein) wurde die monarchische Staatsform aufgehoben und machte der aristokratischen Platz, welche alle polit.
Macht und den größten Teil des Grundbesitzes in den Händen einer größern oder geringern Zahl adliger (eupatridischer) Geschlechter konzentrierte. In Athen [* 56] wurde die anfangs lebenslängliche Amtsdauer des Königs 752 auf 10 Jahre beschränkt, 714 das ausschließliche Recht des Geschlechts der Medontiden auf diese Würde aufgehoben, 682 aber ein Kollegium von neun Archonten (die nur aus und von den Eupatriden gewählt wurden) mit einjähriger Amtsdauer an die Spitze des Staates gestellt. In Korinth war längere Zeit die Regierung in den Händen eines großen Adelsgeschlechts, des der Bakchiaden.
Der Druck, den solche herrschenden Geschlechter auf die übrige Bürgerschaft ausübten, in manchen Fällen auch die Härte, womit sie gegen arme Schuldner einschritten, erregte in vielen Gemeinden die Unzufriedenheit des Volks, welche dann meist Männer von hervorragendem Talent, gewöhnlich Mitglieder der Aristokratie selbst, die mit ihren Standesgenossen zerfallen waren oder ehrlich mit dem Demos sympathisierten, zur Befriedigung ihres persönlichen Ehrgeizes ausbeuteten, indem sie sich an die Spitze der Unzufriedenen stellten und, nachdem sie die bestehende Verfassung umgestürzt, sich selbst zu Alleinherrschern (Tyrannen) aufwarfen und gewöhnlich mit Hilfe von Mietstruppen diese Herrschaft behaupteten.
Einige dieser Tyrannen vererbten sie auch auf ihre Nachkommen, so Andreas, oder wie er sich später nannte, Orthagoras, der 605 v. Chr. in Sikyon sich der Herrschaft bemächtigte, die bis zum Tode des Kleisthenes, der 505 ohne männliche Erben starb, bei seiner Familie blieb; so Kypselos, der 657 v. Chr. nach dem Sturze der Bakchiaden die Regierung von Korinth gewann, die er 30 Jahre lang bis zu seinem Tode behauptete und seinem Sohne Periander übergab, der sie 42 Jahre lang (627–585) führte; erst dessen Nachfolger, sein Neffe Psammetich, wurde 582 vertrieben und eine gemäßigt aristokratische Verfassung eingeführt, wie sie in vielen Staaten nach Vertreibung der Tyrannen oft als Übergang zur Demokratie wieder vorkam. ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Titel
Geschichte.
Die Geschichte beginnt nach der offiziellen Chronologie, die sich auf unsichere japan. Geschichtswerke stützt, mit dem J. 660 v.Chr. In diesem Jahre gründete Dschimmu Tenno (tennō = Kaiser), nach Ansicht der Japaner ein Nachkomme der japan. Götter, wahrscheinlich jedoch der Führer einer Schar von Auswanderern und Eroberern aus dem Süden, durch Eroberung des südl. Teils der Hauptinsel das Japanische Reich und einen Herrscherstamm, der bis in die Gegenwart hineinreicht.
Mit dem ersten Tage des J. 660 v.Chr. beginnt auch die japan. Zeitrechnung. Der Stifter baute seinen ersten Palast, das Dairi zu Kashiwara an der Südostseite des Berges Unebi in der Landschaft Jamato, breitete seine Herrschaft weiter aus und starb 585 v.Chr. Seine Nachfolger, Mikado oder Tenno (in der Schriftsprache, vom Volk gewöhnlich tenshi = Himmelssohn) genannt, deren 122. gegenwärtig den Thron von J. innehat, regierten lange Zeit als unumschränkte Herrscher und werden als das Oberhaupt der einheimischen Religion, die Shinto (wörtlich Götterweg) heißt, betrachtet.
Nach dem Nihonki, der zweitältesten Chronik von J., kamen zuerst um das J. 30 v. Chr. Bewohner von Mimana im südl. Korea nach J. Lebhafter und folgenreicher waren die Beziehungen beider Länder zueinander in dem für J. hochwichtigen Zeitabschnitt zwischen dem Ende des 2. und der letzten Hälfte des 6. Jahrh. unserer Zeitrechnung. Denn innerhalb dieser Periode, die mit den Kriegen der japan. Kaiserin Dschingō (201–270 n. Chr.) gegen Korea beginnt und mit der Einführung des Buddhismus (552) abschließt, erhält J. aus China [* 57] durch Vermittelung von Korea seine Schrift (gegen Ende des 3. Jahrh.) und alle Anfänge seiner spätern wissenschaftlichen und technischen Bildung.
Die erste in den japan. Geschichtswerken erwähnte Beziehung zwischen China und J. fand zwischen 239 und 243 n.Chr. unter der Regierung der erwähnten Kaiserin statt, wo die Beherrscher beider Reiche infolge des neu entstandenen tributären Verhältnisses von Korea zu J. einander Gesandtschaften zuschickten. Unter dem 12. Kaiser Keiko (71–130 n. Chr.) wurden einige, Kumaso genannte Stämme der Insel Kiushiu und von 110 an auch die bis dahin noch selbständigen, den Namen Jebi (Emisshi) führenden Stämme, Vorfahren der jetzigen Ainu (s. d.), im Norden [* 58] und Nordosten der auf den europ. Karten gewöhnlich Nipon genannten Hauptinsel unterworfen.
Diese empörten sich mehreremal, bis endlich Anfang des 9. Jahrh. ihr Widerstand gebrochen und eine allmähliche Übersiedelung nach Jesso und den nördlichern Inseln stattfand. 794 gründete der Kaiser Kammu die Stadt Kioto in der Provinz Jamashiro und verlegte dahin seine Residenz; Kioto blieb die Residenz der Kaiser bis 1868. Von den folgenden Kaisern bestiegen manche in jugendlichem Alter den Thron; daher kam die Regierungsgewalt in die Hände der ersten Minister, denen es gelang, dieses Amt in ihren Familien erblich zu machen.
Die folgenden Jahrhunderte werden daher durch die Kämpfe der rivalisierenden Familien Fudschiwara, Taira und Minamoto ausgefüllt. Bei der immer mehr sinkenden Macht der Centralregierung in Kioto wurden die Gouverneure der Provinzen fast unabhängig und schufen sich durch Verteilung von erblichen Lehen an ihre Untergebenen ein ihnen treu ergebenes Heer; so gewann die Regierungsform allmählich den Charakter einer Feudalmonarchie, in der die Beherrscher der Provinzen oder Daimio (s. d.) zu dem Kaiser als Reichsoberhaupt fast in demselben Verhältnis von Abhängigkeit und Dienstpflicht standen, wie die großen Vasallen von Frankreich und England im Mittelalter zu den Beherrschern dieser Länder.
Die Vasallenfürsten führten häufig Krieg unter sich sowohl als auch gegen den Kaiser oder dessen Stellvertreter. 1192 gelang es Joritomo, aus dem Geschlechte Minamoto, die Macht der Taira zu brechen und die Regierung in die Hände des Kriegeradels zu bringen. Er selbst wurde vom Kaiser zum Kronfeldherrn, zum Sei i tai shogun oder kurz Shogun ernannt, der von nun an, wie der Majordomus bei den Franken, die Geschicke des Landes leitete. Diese Doppelherrschaft dauerte mit wenig Unterbrechungen bis 1868 und führte nicht lange nach Joritomo sogar zu einer Dreiherrschaft, da die verwandte Familie Hodscho sich die Vormund- und Regentschaft über die Shogune anmaßte. Die Versuche mehrerer Kaiser, die alten Verhältnisse dauernd wiederherzustellen, mißlangen. Die Verwirrung wurde immer größer, als von der Mitte bis zum Ende des 14. Jahrh. zwei Kaiser, einer in Kioto, ¶
mehr
864 der andere in Joshino existierten. Am Ende des 13. Jahrh. fanden mehrere erfolglose Einfälle der Mongolen unter Chublai Chan statt, die Marco Polo, der am Hofe Chublais lebte, veranlaßten, das in Europa noch gänzlich unbekannte J. – er nennt es Zipangu (vom chines. Dschippen kuo, d. i. Sonnenaufgangsland) – in seinem Reisewerke zu beschreiben. In der Mitte des 16. Jahrh. war die Macht der Feudalfürsten, der Daimio, so erstarkt, daß einer von ihnen es (1571) wagen konnte, den Shogun abzusetzen. Von dieser Zeit an bis 1603 gab es keinen Shogun, die Regierung war in den Händen von Ota (gest. 1582) und nach ihm von Hidejoshi, gewöhnlich Taiko sama genannt, einem Manne von niedriger Herkunft, aber großer Tapferkeit und Klugheit. Um seinem 6 J. alten Sohne Hidejori die Nachfolge zu sichern, hatte er eine Regentschaft eingesetzt, deren einflußreichstes Mitglied der Fürst von Mikawa, Ijejas, aus der Familie Tokugawa und dem Geschlechte Minamoto, war.
Nach Taikos Tode entbrannte der innere Krieg aufs neue, indem die meisten der Daimio sich der Oberherrschaft, die jetzt Ijejas für Hidejori ausübte, wieder zu entziehen strebten. Ijejas gelang es aber nicht nur, seine Macht noch mehr auszubreiten und zu befestigen, sondern sie auch erfolgreich gegen Hidejori und dessen Anhänger zu gebrauchen. Er nötigte 1603 den 107. Kaiser Gojozei (1587–1612), ihn zum Shogun zu ernennen, während Hidejori nur die nächstfolgende Reichswürde, die eines Naidaijin (wörtlich innerer Minister), verliehen wurde. Ijejas wurde auf diese Weise Meister aller Verhältnisse in J., sodaß er dem Reiche jene merkwürdige, in der Weltgeschichte einzig dastehende Verfassung gab, die erst in der Revolution von 1868 ihr Ende fand. Ijejas dankte schon 1605 zu Gunsten seines Sohnes Hidetada ab, behielt jedoch bis zu seinem Tode 1616 großen Einfluß auf die Regierung.
Die zweite Hälfte des 16. Jahrh. wurde auch durch die Einführung des Christentums merkwürdig. 1542 wurden Portugiesen nach der südl. Insel Tanegashima verschlagen, und es entstand allmählich ein lebhafter Verkehr zwischen den portug. Besitzungen und J. 1549 begab sich der berühmte Jesuit Franciscus Xaver nach J. und predigte in den verschiedensten Gegenden, selbst zu Kioto, das Christentum. 1552, als Xaver J. wieder verließ, hatte es bereits feste Wurzeln gefaßt und breitete sich in den folgenden Jahrzehnten immer weiter aus.
Einige der vornehmsten unter den japan. Christen schickten sogar eine feierliche Gesandtschaft nach Madrid [* 60] und Rom [* 61] ab, die 1582 Nagasaki verließ, von König Philipp II. und Papst Sixtus V. auf die ehrenvollste Weise empfangen wurde und 1590 nach J. zurückkehrte. In J. hatten indessen Feindschaft und Erbitterung gegen das Christentum die Oberhand gewonnen. Schon Taiko hatte der weitern Verbreitung entgegengewirkt; die blutige und gänzliche Ausrottung der japan. Christen und die Vertreibung aller Portugiesen und Spanier aus J. fand aber erst unter Ijejas, besonders aber unter dessen Enkel Jemits (1623–51) statt. Die Schlußscene bildete die Erstürmung des Kastells von Shimabara bei Nagasaki, wohin sich der Rest der japan. Christen geworfen hatte.
Auch die Holländer waren 1600 nach J. gekommen und erhielten 1610 von Ijejas unter höchst günstigen Bedingungen die Zulassung zu freiem Handel sowie die Erlaubnis, auf der Insel Hirado an der Westküste von Kiushiu eine Faktorei einzurichten. Infolgedessen wurde der Handelsverkehr mit den Japanern für sie außerordentlich gewinngebend. Aber nach dem Tode des Ijejas wurde der Freibrief beschränkt, und wurden die Holländer gezwungen, ihre Faktorei auf Hirado zu verlassen und die kleine Halbinsel Desima bei Nagasaki zu beziehen. Später wurde die Ausfuhr von edeln Metallen aus J. verboten und von 1790 an auch die des Kupfers beschränkt. Trotzdem hat aber ihre Faktorei zu Desima bis in die Neuzeit fortbestanden. Auch mußten sie früher alle Jahre, seit 1790 aber nur alle vier Jahre, eine Reise nach Jedo, der Residenz des Shogun, zur Überbringung von Geschenken an den Shogun unternehmen.
Die von Ijejas gegründete Staatseinrichtung brachte sein Enkel und zweiter Nachfolger, der Shogun Jemits, dadurch zum Abschluß, daß er den Japanern, die bis dahin in Handels- und Schifffahrtsverkehr mit den meisten ostasiat. Reichen gestanden hatten, bei Todesstrafe verbot, ihr Vaterland zu verlassen. Der Hauptzweck war, sich selbst durchaus unverändert fortzuerhalten und dem Lande durch Abschließung nach außen hin den Frieden zu bewahren. Hierzu diente hauptsächlich das feste und unverrückbare Verhältnis, in das alle Teile der japan. Staatsmaschine zueinander gebracht wurden, und ferner der als feste Richtschnur für die leitende Macht der Shogune angenommene Grundsatz, daß jedes von Ijejas und dessen ersten Nachfolgern erlassene Gesetz für alle spätern Shogune von bindender Kraft sein sollte.
Haupt des Staates war noch immer der Kaiser, obgleich die Zügel der Regierung sich nicht mehr in seinen Händen befanden. Selbst seinem Einflusse als höchster Priester des Shinto-Kultus wurde dadurch, daß Ijejas und seine Nachfolger den Buddhismus begünstigten, ein Gegengewicht gegeben. Unsichtbar vor dem Volke und außer aller Gemeinschaft mit den Reichsvasallen, den Daimio, die nur durch Vermittelung des Shogun mit ihm verkehren durften, lebte der Kaiser wie ein Gefangener in seinem weitläufigen Palast zu Kioto, dem Dairi oder Kinri, allein umgeben von seinen Frauen, von Priestern und den Beamten seiner Hof- und Haushaltung, die dem aus etwa 150 Familien bestehenden Hofadel (Kuge) entnommen wurden. Um ihn fortwährend zu überwachen, namentlich allen Verkehr zwischen ihm und den Daimio zu verhüten, war in Kioto ein hoher Beamter des Shogun angestellt.
Die Gelder für die Aufrechterhaltung des kostspieligen Hofstaates war der Shogun verpflichtet, dem Kaiser aus den Reichseinkünften zufließen zu lassen. Der Einfluß des Kaisers auf die Angelegenheiten des Reichs erstreckte sich nur auf die Verleihung der höchsten Titel und titulären Würden und auf das Recht, Verträge mit fremden Staaten abzuschließen und Amnestie zu erteilen. Eigentliches Haupt der Staatsverwaltung war der Shogun oder Kubo, Kubo sama (in letzter Zeit Taikun, großer Herr, genannt).
Seit Ijejas, der Jedo in der Provinz Musashi zu seiner Hauptstadt gemacht hatte (1590), war diese Stadt die Residenz. Dem Shogun stand ein Ministerkollegium oder -Rat (Goroju) zur Seite, meistens fünf bis sechs Mitglieder zählend; über ihnen stand der Gotairo, der Ministerpräsident, eine Würde, die jedoch nicht immer besetzt war. Sie waren Minister des Hauses, zugleich aber im Namen ihres Herrn mit der ganzen Staatsverwaltung beauftragt. Zu ihrer Unterstützung ¶
mehr
dien-865 ten die sog. jüngern Reichsräte (wakadoshijori) als Vorsteher der einzelnen Verwaltungszweige. Die Macht dieses Reichsrates war sehr groß und nahm in dem Maße zu, als die Herrschergewalt der Shogune beschränkter wurde. Der Reichsrat überwachte den Shogun, um bei ihm nicht die leiseste Regung zu polit. Reformen aufkommen zu lassen, während zugleich jedes seiner Mitglieder durch alle übrigen scharf beobachtet wurde. Er hielt sich von dem wirklichen Zustande des Reichs bis in dessen fernste Winkel [* 63] durch kontrollierende Beamte fortwährend genau unterrichtet.
Die richterliche Macht war nicht von der Verwaltung getrennt. Die Gesetze waren sehr kurz und bestimmt, viele davon auch einem jeden Japaner seit seiner frühesten Jugend wohlbekannt; die Rechtsprechung außerordentlich streng, aber unparteiisch. Auf schwere Verbrechen stand Todesstrafe. Bei Verbrechern, die der Kriegerkaste angehörten, fand das Harakiri (s. d.), das Bauchaufschneiden, statt. Auf leichtere Vergehen standen Leibes-, Freiheits- und Vermögensstrafen. Zu den Freiheitsstrafen gehörte häufig Verbannung nach bestimmten Inseln (Hadschidscho, Sado u.s.w.).
Mit Ausnahme von 5 Kronlandschaften und einigen Städten und Gebieten zerfiel das Reich in die Länder der Reichsvasallen (Daimio), deren Anzahl ursprünglich den 68 Landschaften entsprach, worin die acht großen Hauptprovinzen (Do, d. h. Wege) geteilt wurden. Die Einkünfte des Shogun bestanden in dem Ertrage der Kronlandschaften sowie dem der genannten Reichsstädte, dem Tribut der Daimio, dem Ertrage der Minen und Bergwerke sowie endlich dem Überschusse aus dem Handel mit den Niederländern und Chinesen. In materieller Hinsicht war der Einfluß der neuen Verfassung glücklich. Mehr als zwei Jahrhunderte herrschte vollkommene Ruhe, und die Wohlfahrt des Landes sowie die Bevölkerung nahmen stetig zu. Die Bevölkerung zerfiel in bestimmte, aber keineswegs so schroff wie die ind. Kasten voneinander geschiedene Klassen:
1) die Daimio, die nach der Größe ihres Besitzes in verschiedene Klassen zerfielen;
2) die Samurai, ebenfalls in verschiedene Klassen zerfallend; aus ihnen gingen Offiziere, Beamte und Soldaten hervor;
3) die Priester des Shinto und Buddhismus, Ärzte, Gelehrte, Künstler u.s.w., insofern sie nicht Beamte des Shogun und der Daimio waren, wodurch sie höhern Rang und wie die Samurai das Recht, zwei Säbel zu tragen, erhielten;
4) Landleute;
5) Handwerker, Schiffer, Fischer u.s.w.;
6) Kaufleute. Alle diese verschiedenen Klassen hatten ihre bestimmten Rechte. Der Übergang aus einer niedern in eine höhere Klasse, persönlicher Verdienste wegen, war nicht ausgeschlossen. In der Regel ging das Amt, der Erwerbszweig und die Lebensbeschäftigung des Vaters auf den Sohn über. Außerhalb des Verkehrs mit der übrigen Bevölkerung und mit ihr «in keiner Gemeinschaft des Feuers und Wassers» stehend, als «unrein» verachtet und gemieden, waren die Eta, eine Art von Paria, die sich mit dem Abdecken des gefallenen Viehs, der Lederbereitung u.s.w. beschäftigten. Aber auch sie hatten ihre Rechte, und ihr Haupt wurde selbst an dem Neujahrstage in den Palast des Shogun zugelassen, um diesem ein paar Ledersandalen zu überreichen.
Die Regierung des Shogun hatte bis zur Mitte des 19. Jahrh. alle Ansuchen auswärtiger Mächte, mit J. in Handels- und Freundschaftsbeziehungen zu treten, mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Die Engländer, die 1674 nach J. kamen, um ihre frühern, 1623 freiwillig aufgegebenen Handelsverbindungen mit diesem Lande wieder anzuknüpfen, wurden abgewiesen. Das widerfuhr auch dem russ. Gesandten Laxmann 1782 und Krusenstern, der sich vom bis ohne etwas zu erreichen, in der Bai von Nagasaki aufhielt.
Ebenso erfolglos blieben neuere Versuche der Engländer 1803 und 1811. Dessenungeachtet aber war seit der Erwerbung Kaliforniens durch Nordamerika [* 64] und dem Entstehen von San Francisco, seit der teilweisen Erschließung Chinas infolge des Friedens von Nanking 1842 und der großen Zunahme des Walfischfangs durch engl. und nordamerik. Schiffe in den japan. Meeren mit Sicherheit vorauszusehen, daß die Regierung zu Jedo sehr bald nicht mehr im stande sein würde, das System der Abschließung von der Außenwelt aufrecht zu erhalten.
Den Nordamerikanern war es vorbehalten, durch eine aus acht Kriegsschiffen bestehende und von Kommodore Perry geleitete Expedition die verschlossenen Pforten des Japanischen Reichs zu öffnen. Perry war zuerst am in Uraga, nicht weit vom heutigen Jokohama, gelandet und überbrachte einen Brief des Präsidenten der Vereinigten Staaten, [* 65] worin dieser um einen Freundschafts- und Handelsvertrag mit J. bat. Am wurde endlich zu Kanagawa der Vertrag zwischen J. und Nordamerika abgeschlossen, dessen Ratifikationen zu Shimoda ausgewechselt wurden.
Die amerik. Schiffe erhielten Zugang zu Shimoda auf der Halbinsel Isu und Hakodate auf Jesso. Ein von den Engländern zu Nagasaki den Japanern abgedrungener und ratifizierter Vertrag öffnete außer den genannten Häfen auch noch Nagasaki. Dieselben Häfen wurden auch den Russen in einem zu Nagasaki geschlossenen und ratifizierten Handels- und Grenzvertrag geöffnet. Den erwähnten Verträgen folgten bald nachher neue, und zwar mit Nordamerika ratifiziert zu Washington [* 66]
mit den Niederländern und
mit Frankreich ratifiziert Den Vertragsmächten wurden vom an die Häfen Hakodate, Nagasaki und Jokohama an Stelle von Kanagawa, vom an Niigata, vom an auch Hiogo (Kobe) und Osaka geöffnet.
Den Ausländern ward erlaubt, an den genannten Orten Grundbesitz zu erwerben und Handel ohne Zwischenkunft japan. Beamten zu treiben, Häuser und Kirchen zu bauen, ihre Religionsgebräuche auszuüben, auch vom an sich des Handels wegen an einem begrenzten Platze in Jedo niederzulassen. Ihre Gesandten und Konsuln üben über die Unterthanen ihrer Länder Jurisdiktion aus und sollen das Innere des Landes bereisen können. Von der Einfuhr ward nur Opium, von der Ausfuhr nur gemünztes Kupfer [* 67] ausgeschlossen. Unter gleichen Bedingungen schlossen auch Portugal [* 68] 1860 und Preußen [* 69] durch Graf Eulenburg für sich und den Zollverein und die Schweiz [* 70] Handelsverträge mit J. Später folgten Handelsverträge mit Belgien [* 71] 1866, mit Schweden [* 72] und Norwegen 1868, mit dem Norddeutschen Bunde 1868, mit Österreich-Ungarn [* 73] 1869 sowie mit den Sandwichinseln und China. Die nach dem Sturz ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Geschichte.
Das O. R. wurde begründet durch den Ende des 12. Jahrh. aus Nordpersien ausgewanderten wenig zahlreichen Stamm der Oghusischen Türken, der über die bereits durch die Seldschuken (s. d.) dem Islam gewonnenen Bewohner Anatoliens seine Organisation als Kriegerstaat unter einem absoluten Herrscher ausdehnte. Ertogrul, der Sohn Suleiman Chans, erwarb sich Anfang des 13. Jahrh. Sitz im nordwestl. Phrygien. Sein Sohn Osman (1288–1326), nach dem das Reich den Namen führt, und noch mehr dessen Sohn Orchan (1326–59) dehnten ihre Herrschaft über ganz Bithynien und Mysien aus.
Letzterer machte Brussa zur Hauptstadt und bereitete durch Eroberung von Gallipoli an der europ. Seite des Hellespont weitere Unternehmungen gegen das oström. Kaiserreich vor. Sein Sohn Murad I. (1359–89), der Vollender der türk. Heeresverfassung, gründete den Soldatenorden der Janitscharen (s. d.), unterwarf im Westen Thrazien und im Osten die Gebiete mehrerer anatolischer Teilfürsten, gegen deren mächtigsten, den von Karamanien, er 1386 schwere Kämpfe zu bestehen hatte. Er verlegte den Schwerpunkt [* 74] des Reichs nach Europa und nahm seine Residenz in Adrianopel, das er 1361 erobert hatte. Er fiel 1389 als Sieger in der auf dem Amselfelde (s. d.) den Serben gelieferten Entscheidungsschlacht.
Murads Sohn, Bajazet I. (1389–1403), zwang die Walachei und den griech. Kaiser Johannes V. zur Tributzahlung und durchzog Griechenland bis zur Südspitze des Peloponnes. Ein Bündnis der christl. Mächte unter Sigismund von Ungarn [* 75] rief den Sultan in den Norden, wo er der christl. Armee bei Nikopolis (1396) eine furchtbare Niederlage beibrachte. Nun aber erfolgte ein Rückschlag, indem Timur (s. d.) mit seinen Tataren in das türk. Gebiet einbrach. Bajazet stellte sich diesem bei Angora (1402) entgegen, wurde aber aufs Haupt geschlagen und geriet in Kriegsgefangenschaft, in der er im folgenden Jahre starb.
Nach einem langjährigen Zwist seiner vier Söhne riß 1413 Mohammed die Alleinherrschaft an sich und führte eine friedliche Regierung. Mohammeds Sohn, Murad II. (1421–51), eroberte Thessalonich, Korinth, Patras und einen Teil Albaniens, hatte aber in letzterm Lande einen tapfern Gegner an Skanderbeg (s. d.). In seinen Kämpfen mit Johann Hunyady (s. d.), dem Fürsten von Siebenbürgen und Statthalter von Ungarn, wurden seine Heere 1443 bei Nissa geschlagen, aber bei Varna 1444 und in der zweiten Schlacht auf dem Amselfelde 1448 blieb er Sieger.
Sein Sohn und Nachfolger Mohammed II. (1451–81) vernichtete durch Eroberung Konstantinopels 1453 das Byzantinische Reich und machte Konstantinopel zur Hauptstadt seines Reichs. Er ließ nicht nur das griech. Patriarchat bestehen, sondern errichtete auch ein armenisches; durch seine Gesetzgebung legte er den Grund zu dem noch jetzt größtenteils bestehenden türk. Rechtswesen. Er erweiterte das Reich nach allen Richtungen, verwandelte Serbien 1459 in eine türk. Provinz, eroberte 1460 Morea, 1461 Trapezunt, 1462 Lesbos, 1463 den größten Teil Bosniens, verleibte 1466 Karamanien seinem Reich ein und zwang 1475 den Tatarenchan in der Krim [* 76] zur Vasallenschaft. 1480 landeten seine Truppen in Italien [* 77] und nahmen Otranto. Er starb 1481. Die Regierung seines Sohnes Bajazet II. (1481–1512) verlief dagegen fast thatenlos, und schon offenbarten sich Zerwürfnisse im Herrscherhause, denen Bajazets Sohn und Nachfolger, Selim I. (1512–20), seine gewaltsame Erhebung auf den Thron verdankte.
Aber dieser Selim gab dem O. R. einen neuen Aufschwung. Er warf die Perser über den Tigris zurück und besiegte 1517 den letzten Mamlukensultan, dem er Syrien und Ägypten abnahm. Hiermit ging auch das Schutzrecht der Heiligen Stätten des Islam in Mekka und Medina auf die türk. Sultane über, und Selim legte sich endlich auch den Titel eines Chalifen bei. Selims Sohn und Nachfolger, Suleiman II. (1520–66), eroberte 1521 Belgrad, damals eine ungar. Grenzfestung, 1526 Peterwardein, vernichtete dann das ungar. Heer in der blutigen Schlacht bei Mohacs und nahm die Hauptstadt des Landes, Ofen, ein, die er freilich noch nicht behauptete, da Aufstände im Osten des Reichs ihn abriefen. 1529 setzte er das begonnene Werk mit noch größerm Nachdruck fort.
Ofen wurde abermals erobert, Ungarn bis auf die Nordkomitate unterworfen und zu einem Vasallenkönigreich unter dem siebenbürg. Fürsten Johann Zápolya (s. d.) gemacht. Durch die Einnahme Wiens gedachte Suleiman den Widerstand Ferdinands I. dauernd zu brechen und sich den Weg in den Westen Europas zu bahnen. Hier aber versagte sein Kriegsglück, und nach schweren Verlusten sah er sich zum Rückzug genötigt. In dem 1533 abgeschlossenen Frieden mußte er sich mit dem eroberten südl. Teil Ungarns begnügen und Ferdinand von Österreich [* 78] als König von Ungarn anerkennen. Gleich darauf eröffnete er den Krieg gegen den Schah von Persien, [* 79] der ihm 1534 die Länder am Wansee, Täbris und Bagdad abtreten mußte. 1541 kam es ¶
mehr
zu einem neuen Krieg mit Österreich. Suleiman machte ganz Ungarn bis gegen Ofen, Stuhlweißenburg [* 81] und Gran [* 82] zur türk. Provinz. Die Kämpfe 1551–62 wurden um den Besitz Siebenbürgens geführt, das Suleiman unterworfen blieb. Nicht minder erfolgreich waren seine sonstigen Unternehmungen. 1522 entriß er den Johanniterrittern das heldenmütig verteidigte Rhodus, seine Admirale Cheir eddin und Horuk erwarben ihm die Oberherrschaft über die Barbareskenstaaten und eroberten mehrere Seefestungen der Venetianer im Archipel.
Die Raubzüge türk. Flotten verbreiteten Schrecken an allen Küsten des Mittelmeers bis nach Spanien, nicht minder ostwärts im Indischen Ocean. Nur Korfu [* 83] und Malta, jenes von den Venetianern, dieses von den Johanniterrittern verteidigt, widerstanden siegreich allen Angriffen. Suleiman starb 1566 auf einer Expedition nach Ungarn vor dem von Zrinyi (s. d.) heldenmütig verteidigten Sziget. Seine Regierung bezeichnet neben der höchsten Blüte den Wendepunkt in der osman.
Geschichte, denn von ihm an datiert die Abschließung der Prinzen vom Verkehr mit der Außenwelt, infolge deren es ihnen später an Kenntnissen und Einfluß fehlt. Um so mehr aber steigt die Macht der Großwesire; Günstlings- und Haremswirtschaft nehmen überhand, und die Thronfolge wird immer mehr von der Willkür der Ulemas und Janitscharen abhängig. Sein Sohn, Selim II. (1566–74), war ein energieloser Weichling, der zwar den Venetianern Cypern entriß und das Herzogtum Naxos (s. d.) eroberte, aber auch in der Schlacht von Lepanto (s. d.) durch Don Juan d'Austria die erste große Niederlage erlitt, die den Ruf der Unbesieglichkeit der türk. Waffen erschütterte.
Der eigentliche Regent des Reichs war sowohl unter ihm als auch während der ersten Zeit der Regierung seines Sohnes Murad III. (1574–95) der Großwesir Mohammed Sokolli, der die Geschäfte mit großer Kraft und Gewandtheit führte, bis er 1579 ermordet wurde. Die nach seinem Tode gegen Österreich und Persien geführten Kriege verliefen freilich noch im allgemeinen günstig, indem Kars, Eriwan und Aserbeidschan erobert wurden, im Innern nahm jedoch die Zuchtlosigkeit der Janitscharen schon einen bedenklichen Charakter an. Auf Murad folgte sein Sohn, Mohammed III. (1595–1603), der 1596 selbst an der Spitze seines Heers nach Ungarn zog, wo er Erlau und Stuhlweißenburg zwar eroberte, aber einen weit hartnäckigern Widerstand fand als seine Vorgänger.
Auch im Osten waren die Verhältnisse schwieriger geworden. Die Perser erhoben sich unter dem gewaltigen Schah Abbâs I. (s. d.) und suchten die verlorenen Provinzen zurückzuerobern. Mohammeds Sohn und Nachfolger, Achmed I. (1603–17), bestieg den Thron 15 J. alt und schloß mit Österreich 1606 den ungünstigen Frieden von Sitvatörök, um gegen Persien freie Hand zu gewinnen. Aber auch hier mußte er im Frieden von 1612 mehrere Landstriche zurückgeben. Nach Achmeds Tode bestieg 1617 sein blödsinniger Bruder, Mustapha I., den Thron, der kaum nach Jahresfrist wieder abgesetzt wurde, worauf Achmeds ältester Sohn, Osman II. (1618–22), 12 J. alt, anfangs unter der Leitung des Diwan, nach zwei Jahren aber selbständig die Regierung übernahm.
Volk und Janitscharen waren gleich unzufrieden mit ihm, Aufstände brachen aus, und nach vierjähriger Regierung wurde er ermordet. Nachdem der blödsinnige Mustapha auf ein paar Monate wieder auf den Thron gesetzt war, folgte Osmans zwölfjähriger Bruder, Murad IV. (1623–40), anfangs unter der Vormundschaft seiner Mutter, aber schon nach drei Jahren selbständig. Unter seiner tüchtigen, aber grausamen Herrschaft hob sich der Glanz der türk. Waffen wieder; er unternahm zwei Feldzüge gegen die Perser, die Georgien, Armenien und Bagdad erobert hatten, und nahm ihnen Bagdad wieder ab. Er starb kinderlos 29 J. alt.
Ihm folgte sein Bruder, Ibrahim I. (1640–48), der 1645 einen Krieg gegen die Venetianer um den Besitz von Kreta begann, dessen Ausgang er nicht mehr erlebte, da er 1648 von den Janitscharen abgesetzt und hingerichtet wurde. Unter traurigen Verhältnissen bestieg Ibrahims siebenjähriger Sohn, Mohammed IV. (1648–87), den Thron. Seine Großmutter Mahpeiker Kössem, die Mutter dreier Sultane, und seine Mutter Tarchan stritten sich um den Einfluß, während die Venetianer (1656) vor den Dardanellen erschienen und über die großherrliche Flotte einen glänzenden Sieg (6. Juli) davontrugen. In dieser bedrängten Lage ergriff der 75jährige Mehemed Kjöprili (s. d.) die Leitung der Regierung, und eine Reihe von bedeutenden Großwesiren folgte ihm, die den Verfall des O. R.s noch für einige Zeit aufhielten.
Kjöprili vertrieb die Flotte der Venetianer vom Hellespont und stellte mit rücksichtsloser Grausamkeit die Ruhe und Ordnung im Innern des Reichs her. Ihm folgte als Großwesir 1661 sein Sohn Achmed, der 15 Jahre lang die Geschäfte leitete und sich ebenso sehr durch Milde auszeichnete wie sein Vater durch blutdürstige Härte. Eine Intervention der Österreicher in Siebenbürgen rief ihn 1662 nach Ungarn, wo ihm Montecuccoli bei St. Gotthard an der Raab [* 84] eine empfindliche Niederlage beibrachte; dennoch aber gewann er mehrere Festungen, von denen Neuhäusel beim Friedensschluß von Vasvar im Besitz der Türkei blieb. In den folgenden Jahren brachte der Großwesir Kreta, damals den Venetianern gehörig, unter die Botmäßigkeit der Pforte. Ein Aufstand der Kosaken, für die Kjöprili gegen ihre poln. Herren Partei nahm, rief einen Krieg mit Polen hervor, der Johann III. Sobieski nötigte, durch Abtretung Podoliens und eines Teils der Ukraine den Frieden von Zurawna zu erkaufen.
Achmed Kjöprilis Tod in demselben Jahre setzte dem Regierungsglück des schwachen und unfähigen Mohammed IV. ein Ziel. Der Kosakenhetman der Ukraine warf sich, nach völliger Unabhängigkeit strebend, den Russen in die Arme und wurde so die Ursache zu den verhängnisvollen Berührungen der Pforte mit Rußland. Zar Feodor III. schlug die Türken in drei aufeinander folgenden Feldzügen und zwang sie durch den Friedensschluß zu Radzin 1681 zu bedeutenden Abtretungen auf dem linken Dnjestrufer.
Im Einverständnis mit Ludwig XIV. unterstützte Kara Mustapha (s. d.), der nach Achmed Kjöprilis Tod Großwesir geworden war, den Aufstand des ungar. Grafen Tököly gegen die österr. Herrschaft. Tököly wurde von dem Sultan 1683 zum König von Mittelungarn ernannt, und noch in demselben Jahre erschien eine große türk. Armee vor Wien, [* 85] die jedoch nach etwa zweimonatiger Belagerung zum Abzug gezwungen und von den verfolgenden Deutschen und Polen noch zweimal auf ungar. Boden geschlagen wurde. Während Sobieski in die Moldau und Walachei eindrang und die Venetianer und Malteserritter Morea eroberten, ¶
mehr
Dalmatien angriffen und die Ionischen Inseln von den türk. Truppen säuberten, nahmen die Österreicher unter dem Herzog von Lothringen (1684) Višegrad, Waizen (1685), Neuhäusel und die Landeshauptstadt Ofen ein, die 145 Jahre in türk. Besitz gewesen war. Eine neue Armee erlitt am Berge Harsán bei Mohacs von den Kaiserlichen abermals eine völlige Niederlage; Peterwardein, Erlau, Stuhlweißenburg wurden nacheinander erobert, und sogar Belgrad fiel den Christen in die Hände.
Der Verlust Ungarns kostete Mohammed IV. den Thron. Die Janitscharen meuterten, der Scheich ul-Islam erklärte ihn für abgesetzt, und sein ebenso unfähiger Bruder, Suleiman III. (1687–91), wurde zu seinem Nachfolger ernannt. Der festen Hand Mustapha Kjöprilis, der als Großwesir die Regierung übernahm, gelang es aber bald, Zucht und Ordnung wiederherzustellen. In einem neuen Feldzuge wurden die Kaiserlichen 1690 über die Donau und Save zurückgeworfen und büßten ihre Eroberungen, unter anderm Belgrad, Semendria und Vidin, wieder ein.
Als aber Mustapha im nächsten Jahre (1691) das Waffenglück weiter verfolgen wollte, erlitt er von den Österreichern unter dem Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden [* 87] 19. Aug. bei Slankamen eine entscheidende Niederlage, bei der er selbst den Tod fand. Kurz vor diesem Unfall war Suleiman III. gestorben und hatte seinen Bruder, Achmed II. (1691–95), zum Nachfolger, der nach einer kurzen thatenlosen Regierung die Krone auf seinen Neffen Mustapha II. (1695–1703), den Sohn Mohammeds IV., vererbte.
Dieser brach sofort in Ungarn ein, wo er noch 1695 einige Vorteile errang, während die türk. Flotte die Venetianer schlug und Asow erfolgreich gegen Peter d. Gr. von Rußland verteidigt wurde. Aber schon 1696 ging dieser Platz an den Zaren verloren, und als Mustapha II. 1697 wieder in Ungarn erschien, wurde er von dem Prinzen Eugen von Savoyen 11. Sept. bei Zenta an der Theiß geschlagen. Die Folge dieses Sieges war der Friede von Karlowitz, worin Siebenbürgen und Ungarn, mit Ausnahme der Stadt Temesvár und des Banats, vom Sultan dem Deutschen Kaiser abgetreten wurden; Rußland erhielt Asow und dessen Gebiet, Venedig [* 88] Morea und den größten Theil von Dalmatien; Polen wurde mit der Ukraine und Podolien entschädigt.
Erbittert über diesen Frieden setzten die Janitscharen Mustapha II. ab und erhoben seinen Bruder, Achmed III. (1703–30), auf den Thron, auf dessen Regierung sein Großwesir, der «weise» Hussein Kjöprili, den größten Einfluß ausübte. Unter Achmed erschien Karl XII. von Schweden, nach seiner Niederlage bei Pultawa, als Flüchtling auf türk. Boden und wußte den Sultan zur Teilnahme an dem Kriege gegen Rußland zu bestimmen. Bei einem Einfall in die Moldau wurde Peter d. Gr. mit seinem Heer am Pruth von den türk. Truppen unter dem Großwesir Baltadschi-Mohammed (1711) eingeschlossen; durch Bestechung desselben gelang es Peter, sich zu retten und gegen Abtretung Asows 1711 den Frieden am Pruth zu erlangen.
Mehr Ruhm erwarben sich die Türken in Morea. Anfang 1715 griff der Sultan die Halbinsel an; viele Griechen kämpften gegen die Venetianer in den Reihen der Türken, und in acht Monaten wurde die Eroberung vollendet. Der Angriff auf Morea war eine Verletzung des Vertrags von Karlowitz gewesen. Österreich verlangte Genugthuung, und es kam darüber zu einem abermaligen Krieg, in dem der Prinz Eugen (1716) bei Peterwardein wiederum einen glänzenden Sieg davontrug. Temesvár, der letzte türk. Besitz auf ungar. Boden, und bald darauf Belgrad fielen infolgedessen den Kaiserlichen in die Hände.
Die Pforte sah sich zu dem Frieden von Passarowitz genötigt, worin sie das Banat mit Temesvár, einen Teil Serbiens mit Belgrad, die Walachei bis zur Aluta und einen Teil Bosniens an Österreich abtrat, aber, gegen eine der Republik Venedig in Dalmatien gewährte Entschädigung, im Besitz von Morea blieb. Die Anarchie in Persien (s. d.) sich zu nutze machend, sandte die Pforte hierauf ihre Heere in den Osten, welche Eriwan, Täbris und Hamadan dem Sultan unterwarfen.
Aber der meuterischen Soldateska hatte der Sultan schon zu lange regiert; ein Aufstand stürzte ihn und hob seinen Neffen Mahmud I. (1730–54) auf den Thron. Unter ihm gingen die pers. Eroberungen wieder verloren. Die Russen fielen in die Krim ein, eroberten Asow und nahmen Chotin in Bessarabien sowie Jassy in der Moldau, dagegen wurden die Österreicher in den Feldzügen 1737–39 geschlagen und mußten sich zu dem Friedensschluß von Belgrad verstehen, worin sie Belgrad und Orsova, Nordserbien und die Kleine Walachei wieder an die Türkei abtraten.
Rußland gab Chotin heraus und behielt Asow nur mit geschleiften Festungswerken. Auf Mahmud I. folgte sein Bruder Osman III. (1754–56), der den Thron auf seinen Vetter, Mustapha III. (1756–74), einen Sohn Achmeds III., vererbte. Während der ersten Hälfte seiner Regierung dauerte der äußere Friede fort, und im Innern brachte der Großwesir Raghib Pascha Ordnung in die Provinzialverwaltung, vollendete die Unterwerfung Ägyptens durch Vernichtung der Macht der Mamlukenbeis, stellte das Gleichgewicht [* 89] in den Finanzen her und wußte die Janitscharen im Zaum zu halten. Unter seiner Sorge gelangte das O. R. in einen Zustand der Blüte, zu dem es sich später kaum wieder erhoben hat.
Die Intriguen, durch die Katharina II. von Rußland das Polnische Reich gänzlich von ihrem Willen abhängig zu machen bemüht war, erfüllten den Diwan mit Besorgnissen. Aufstände der Montenegriner und der Walachen, die Rußland angestiftet haben sollte, reizten den Zorn der Pforte, und als die sog. Konföderierten von Bar, die Gegner Stanislaus Poniatowskis (s. d.), des von Rußland begünstigten poln. Königs, sie um Hilfe ansprachen, entschloß sie sich zum Kriege gegen Rußland. Im Frühjahr 1769 zog eine zahlreiche türk. Armee gegen die russ. Grenze, wurde aber am Dnjestr geschlagen, worauf die Russen wieder Chotin nahmen. 1770 siegten die Russen am Pruth (18. Juli) und am Kagul (1. Aug.) und eroberten die Moldau und Walachei; eine russ. Flotte erschien im Archipel und vernichtete die türk. Seemacht 16. Juli auf der Reede von Tschesme. Im Feldzug von 1771 eroberte Fürst Dolgorúkij die Krim. Im Juni 1771 wurde ein Waffenstillstand abgeschlossen; aber die in Focşani und Bukarest 1772 und 1773 eröffneten Friedensverhandlungen blieben erfolglos, und der Krieg begann von neuem und verlief wieder ungünstig für die Türken. Das O. R. schien der völligen Auflösung entgegenzugehen. In Akka hatte ein Beduinenscheich, Daher, einen unabhängigen Staat ¶
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Geschichte.
Die ältesten Bewohner des Landes waren im Westen Illyrer, im Osten Thraker, wozu sich im 3. Jahrh. v. Chr. die kelt. Skordisker gesellten. Nach der Unterwerfung durch die Römer gehörten diese Gebiete zu den Provinzen Dalmatia (der Westen des jetzigen Königreichs mit Rudnik), Moesia superior und Dardania. Die alte Bevölkerung wurde meist romanisiert, und Reste dieser Romanen (Wlachen) gab es noch im späten Mittelalter im Lande. Nach den Zügen der Goten, Hunnen und Avaren folgte im 7. Jahrh. die Einwanderung der Slawen, die, in kleine Stämme geteilt und von einzelnen, Župan genannten Fürsten beherrscht, an der Küste bald unter byzant.
Oberhoheit kamen. Der Stamm der eigentlichen Serben saß im Binnenland am Lim und Ibar. Erst langsam gewann sein Name einen weitern Umfang. Nach der Landschaft bei der Burg Ras und am Fluß Raška wurde das Land im Ausland oft auch Rašcia genannt (s. Novipazar). Der Schwerpunkt der ältern serb. Geschichte lag aber an der Küste, in der Nachbarschaft der byzant. Seestädte zwischen Durazzo und der Narenta. Das Christentum kam teils aus den roman. Städten Dalmatiens, teils aus dem griech. und bulgar. Osten, bis im 12. Jahrh. der orient.
Einfluß die Oberhand gewann. Der Osten mit der Straße von Belgrad nach Konstantinopel war im Besitz der Bulgaren, gegen welche die Serben von den Byzantinern unterstützt wurden, wobei sich die Stämme unter einem Groß-Župan vereinigten, wie es scheint, zuerst unter Tscheslaw um 930–950. Nach der Eroberung Bulgariens durch die Byzantiner (1018) begannen die serb. Fürsten, oft im Bunde mit Ungarn, den Kampf gegen die byzant. Übermacht, so Stephan Vojšlaw (nach 1040), der in Montenegro einige große Siege erfocht, sein Sohn Michael (um 1051–81), der von Papst Gregor VII. den Königstitel erhielt, und dessen Sohn Bodin, den die Kreuzfahrer 1096 in Skutari antrafen.
Unter den Komnenen verfiel das Land durch Teilung und öftern Wechsel der Groß-Župane, bis Stephan Nemanja die einzelnen Gebiete wieder vereinigte und nach dem Tode des Kaisers Manuel I. (1180) unabhängig machte. Nemanjas Sohn Stephan der «Erstgekrönte» erhielt 1220 vom Papst die Königskrone, während gleichzeitig sein Bruder, der Erzbischof Sava, im Einverständnis mit den Griechen das autokephale serb. Erzbistum begründete. Wiederholte Kämpfe um den Thron hemmten den Aufschwung des Landes, bis König Stephan Urosch II. Milutin (1282–1321) das nördl. Macedonien besetzte, seine Residenz in Skopje aufschlug und sich als Schwiegersohn des Kaisers Andronikos II. diese Erwerbungen bestätigen ließ.
Venetianer und Ragusaner trieben von der Küste aus, wo Cattaro, Antivari und Dulcigno unter serb. Herrschaft standen, einen regen Handel im Lande, besonders bei den Bergwerken (Novo Brdo, Rudnik u. s. w.), die meist von aus Ungarn eingewanderten Sachsen [* 90] ausgebeutet wurden. Die Macht des Königs war beschränkt durch einen kriegerischen Adel (vlasteIa). Die größte Ausdehnung [* 91] erreichte S. unter Stephan (s. d.) Duschan (1331–55), der die Bürgerkriege in Byzanz zur Besetzung von Südmacedonien (außer Saloniki), [* 92] Thessalien, Albanien und Epirus benutzte und sich 1346 in Skopje zum Kaiser (Zar) der Serben und Griechen krönen ließ.
Bei der Unbotmäßigkeit des Adels zerfiel aber das Reich bald nach seinem Tode. Sein Bruder Symeon bemächtigte sich als Zar des Südens und schlug seine Residenz in Trikala in Thessalien auf. Duschans Sohn, der letzte Nemanjide, Zar Urosch (1355–71), verlor bald alles Ansehen. Der Edelmann Wukaschin ließ sich 1366 zum König proklamieren, fand aber nicht überall Anerkennung und fiel 1371 bei einem Zug gegen die Türken bei Adrianopel. Die serb. Teilfürstentümer in Macedonien, darunter das des Königs Marko und andere, fielen unter türk. Oberhoheit. Im Norden behaupteten sich die Balscha (s. d.), die Brankowitsch (s. d.) und Fürst (Knez) Lazar im Moravathal, der einen Bund gegen die Türken organisierte, aber 1389 in der Schlacht auf dem Amselfelde (s. d.) unterlag.
Trotzdem besaßen seine Nachfolger ein noch größeres Territorium als er. Sein Sohn Stephan Lazarević (1389–1427) riß sich nach der Schlacht bei Angora (1402) von der türk. Oberhoheit los, um sich König Sigismund von Ungarn anzuschließen, erhielt vom byzant. Kaiser den Despotentitel, residierte meist in Belgrad und gewann außer der bosn. Bergwerkstadt Srebernica als Erbe der Balschas nach einem Krieg gegen Venedig auch das Küstenland bei Budua und Antivari. Sein Neffe und Nachfolger Georg Brankowitsch (1427–56) war den Türken tributär, stützte sich aber häufig auf Ungarn und stellte nach der ersten Eroberung durch Murad II. (1439–44) seinen Staat fast ganz im alten Umfang her. Die Uneinigkeit seiner Söhne erleichterte Mohammed II. die vollständige Unterwerfung S.s durch Einnahme der Hauptstadt Smederovo (Semendria) 1459. ¶
mehr
Eine Veränderung brachten die Kriege Österreichs gegen die Pforte, in denen 1688 Belgrad erobert und 1689 Prizren und Skoplje besetzt wurden; jedoch die Wendung 1690 führte zu einer starken serb. Auswanderung nach Südungarn (s. Crnojević). 1718–39 war Belgrad mit dem Land zwischen Drina, der serb. Morava und Timok im Besitz Österreichs. Auch im Kriege 1787–91 wurde Belgrad von Österreich erobert; aus den Einheimischen wurden starke Freikorps geworben, deren geübte Mannschaften nach dem Frieden im Lande blieben.
Der serb. Aufstand 1801 begann als «loyale» Revolution der christl. Bauern gegen die rebellischen Janitscharen von Belgrad, das 1806 von den Serben erstürmt wurde, worauf aber die Aufständischen im Bunde mit den Russen 1806–12 den Krieg gegen die Pforte führten. (S. Osmanisches Reich, [* 94] Bd. 12, S. 683b.) Der Friede von Bukarest (1812) verhieß den Serben innere und finanzielle Autonomie nebst voller Amnestie; nur die alten Festungen sollten der Pforte zurückgegeben werden.
Als aber Europa durch die Befreiungskriege beschäftigt war, unternahm der Großwesir Churschid Pascha einen Zug, um die Serben mit Waffengewalt völlig zu unterjochen. Karadjordjes Plan, sich auf die Defensive in den Festungen und Waldgebirgen zu beschränken, wurde von den Woiwoden nicht angenommen, der Grenzkrieg führte zu Niederlagen, Belgrad war nicht für eine Belagerung vorbereitet, und Karadjordje trat daher mit den meisten Anführern und zahlreichen Flüchtlingen auf österr.
Boden über. Von den Häuptern der Bewegung blieb nur Milosch Obrenowitsch, der Woiwode von Užice, im Lande, der nun von den Siegern zum Chef (Knez) der Kreise [* 95] von Rudnik und Kragujevac ernannt wurde. Grausame Hinrichtungen und Verfolgungen nach einem Aufstandsversuch (1811) erregten von neuem die ganze Bevölkerung gegen die Türken. Am Palmsonntag 1815 begann Milosch vom Dorfe Takovo aus einen neuen Aufstand, schlug einige türk. Truppenabteilungen, verständigte sich aber bald mit dem Rumeli-Walessi Maraschli Ali Pascha über eine Landesautonomie unter einheimischen Knezen, mit einem Senat als oberster Gerichts- und Finanzbehörde, wobei er selbst als «Basch-knez» (Oberfürst) anerkannt wurde.
Der griech. Aufstand zog die völlige Austragung aller Fragen in die Länge, bis nach dem Frieden von Adrianopel der großherrliche Hatt-i-Scherif von 1830 festsetzte, daß Milosch als erblicher Fürst bestätigt würde, die Türken nur in den Festungsstädten wohnen dürften, und die Grenzen [* 96] auf den Stand von 1812 gebracht würden, worauf die Serben 1833 Negotin, das Timokthal, Alexinac und Kruševac übernahmen. Milosch, der meist in Kragujevac und Požarevac residierte, regierte nach dem Vorbild türk. Paschas mit Willkür, ohne Volksversammlung, riß Handelsmonopole an sich und unterdrückte einige Aufstände mit blutiger Grausamkeit.
Unter dem Einfluß der Reformen in der Walachei und in der Türkei regte sich seit 1835 eine starke, von den Schutzmächten des Fürstentums, Rußland und der Pforte, unterstützte Opposition zu Gunsten eines Statuts (Ustav), das 1838 erlassen wurde und vor allem einen Senat zur Beschränkung des Fürsten schuf. Milosch dankte deshalb ab. Von seinen Söhnen regierte Milan nur wenige Wochen; Michael, der nach ihm den Thron bestieg, wurde schon 1842 durch einen Aufstand der Senatorenpartei, an deren Spitze der Woiwode Wučić und der Diplomat Petronijević standen, zur Abdankung gezwungen, worauf die Skupschtina Sept. 1812 Alexander Karadjordjewitsch (1842–58) einstimmig zum Fürsten wählte.
Die Oligarchie der Senatoren, die den Fürsten auf den Thron gebracht hatte, behielt während seiner ganzen Regierung den größten Einfluß. Während der ungar. Revolution 1848–49 bewog der Kampf der südungar. Serben gegen die Magyaren auch S., zur Unterstützung Österreichs ein Freiwilligenkorps unter Kničanin (s. d.) abzuschicken. Nach der Niederwerfung der Revolution geriet Fürst Alexander ganz unter den reaktionären österr. Einfluß; er berief keine Skupschtina mehr, kam aber während des Orientkrieges bei seiner Unselbständigkeit in eine arge Lage.
Rußland besetzte die Walachei und wollte die Serben zu einem Angriff auf die Pforte veranlassen, während Österreich, um dies zu verhindern, im Banat ein Observationskorps zusammenzog. In S., wo russ., türk., österr. und franz. Einflüsse abwechselten, rüstete man sich zum Kriege, blieb aber endlich dennoch neutral. Der Pariser Friede (s. d.) stellte 1856 S., das bisher unter türk. und russ. Protektorat gestanden hatte, unter die gemeinsame Garantie der Vertragsmächte.
Indessen kam es zwischen der Oligarchie und dem Fürsten zum Bruch, die Pforte unterstützte die Senatoren, und 1858 verhalf der Pfortenkommissar Edhem Pascha den Oligarchen zum Sieg: der Senat erhielt das Recht, sich selbst zu ergänzen, und der Fürst durfte seine Minister nur aus dem Senat wählen. Wučić wurde Präsident des Senats, während Ilija Garaschanin, der als Parteigänger Napoleons III. galt, die Seele des Ministeriums war. Die Senatspartei ging nun in der Absicht, einen der ihrigen auf den Thron zu setzen, daran, durch Berufung einer Skupschtina den Fürsten zu stürzen, wurde aber durch seinen Sturz mitgerissen.
Die Skupschtina («Svetoandrejska skupština»),
die auf Grund eines neuen Wahlgesetzes gewählt und 500 Deputierte stark war, trat am St. Andreastage 1858 zusammen, berief 23. Dez. den 78jährigen Milosch wieder ins Land zurück und machte auch dem Senat wegen seiner Verbindungen mit den Türken ein Ende. Milosch herrschte, unbekümmert um die Gesetze, mit gewohnter Willkür, verfolgte seine Gegner besonders unter den Senatoren, starb aber schon Es folgte nun zum zweitenmal sein Sohn Michael (1860–68), der sich von allen seinen Vorgängern durch seine Bildung und Begabung unterschied und im Lande auch bereits eine neue Generation junger, im Auslande gebildeter Männer vorfand, mit denen er eine Verwaltung moderner Art einführte.
Der Senat wurde als Staatsrat 1861 ganz neu errichtet, die Skupschtina alle drei Jahre einberufen und durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht eine militärisch gegliederte Miliz errichtet. Garaschanin war Ministerpräsident; der junge Ristić bekleidete den wichtigen Posten eines serb. Vertreters in Konstantinopel. Die nationale serb. Bewegung, die eine Vereinigung aller Serben anstrebte (s. Omladina), die gleichzeitigen Revolutionen in der Herzegowina und auf Kreta und die Vereinigung der Moldau und Walachei drängten auch S. zum Handeln. Zuerst mußte es jedoch die Türken aus dem Lande los werden, die teils in den Festungen, teils in eigenen Stadtvierteln lebten, wo es zwischen den serb. und türk. Einwohnern und deren Behörden sehr oft Reibungen gab. Am kam es in Belgrad zu einem Streit an einem öffentlichen ¶
mehr
Brunnen, [* 98] in dem ein Serbe getötet wurde: es folgte ein Straßenkampf, die türk. Bevölkerung floh in die Festung, [* 99] und 17. Juni begann der Kommandant Aschir Pascha Belgrad plötzlich zu bombardieren. Die Beschießung wurde auf Intervention der Konsuln eingestellt, der Pascha von der Pforte abgesetzt, und nach einer Konferenz der Vertreter der Pariser Vertragsmächte in Konstantinopel (Protokoll vom 8. Sept.) ließ der Sultan die türk. Staatsbürger gegen Entschädigung aus S. auswandern, schleifte die Burgen von Užice und Sokol und behielt nur Garnisonen in den Festungen von Belgrad, Šabac, Smederevo und Kladovo. Mit Hilfe der Mächte gelang es dem Fürsten Michael, die Pforte 1867 auch zur Übergabe dieser Festungen zu bewegen, unter der Bedingung, daß in ihnen neben der serb. noch immer die osman. Fahne wehen sollte. Oppositionelle Strömungen, die von der serb. Presse [* 100] in Südungarn unterstützt wurden, bewogen den Fürsten, eine neue Verfassung vorzubereiten, jedoch wurde er schon im Park von Topčider ermordet. Die Verschworenen, an deren Spitze der Advokat Radovanovič stand, wurden jedoch ergriffen und 16 derselben erschossen. Ein schwerer Verdacht lastete auf dem ehemaligen Fürsten Alexander, dessen Familie die Verschwörer wieder auf den Thron bringen wollten; jedoch wurde er in Ungarn zwar von einer Instanz verurteilt, von den zwei andern aber freigesprochen. Michaels Nachfolger wurde sein Neffe Milan (1868–89), während dessen Minderjährigkeit das Fürstentum 1868–72 von einer Regentschaft verwaltet wurde, bestehend aus General Blasnawatz, Ristič und Gawrilovič.
Eine Verfassung, die am St. Peterstag 1869 von einer Skupschtina in Kragujevac bestätigt wurde, erklärte die Dynastie der Obrenowitsche für erblich auch in weiblicher Linie, schloß die Karadjordjewitsche vom Thron aus und bestimmte die Zusammensetzung des Landtags, der zu drei Vierteln aus gewählten Deputierten (einer für je 3000 Steuerzahler), zu einem Viertel aus ernannten bestehen sollte. Auch nach der Großjährigkeitserklärung Milans (Aug. 1872) leitete Ristič bis 1873 die Regierung weiter; dann folgten mehrere Ministerien schnell aufeinander.
Als Juli 1875 in der Herzegowina ein Aufstand ausbrach, durfte S. schon wegen der Rivalität mit dem stammverwandten Montenegro nicht zurückbleiben; aber Fürst Milan, dem das diplomat. Talent Michaels fehlte, schwankte lange zwischen den Ratschlägen der Großmächte, den Anschauungen serb. Politiker und den Bestrebungen der Skupschtina, bis Mai 1876 der bulgar. Aufstand, der Konsulmord in Saloniki und der Sturz des Sultans Abd ul-Asis (s. Osmanisches Reich, Bd. 12, S. 685) die Kriegsbewegung unaufhaltsam machten.
Obwohl die Rüstungen unzulänglich waren, begann S. im Bund mit Montenegro den Krieg gegen die Türkei. Der zum Oberbefehlshaber ernannte russ. General Tschernajew mußte die Versuche einer Offensive bald aufgeben, Osman Pascha besetzte von Vidin aus das Timokthal, und Abd ul-Kerim operierte aus Nisch gegen das befestigte serb. Lager [* 101] bei Alexinac und Deligrad, wo Tschernajew durch die Proklamierung Milans zum König 16. Sept. eine vorübergehende polit. Demonstration veranstaltete, bis die Türken durch die Schlacht bei Djunis 30. Okt. sich den Weg in das Innere gegen Kruševac öffneten und Alexinac besetzten.
Durch russ. Intervention wurde sofort ein Waffenstillstand geschlossen, worauf im Frieden vom der frühere Zustand erneuert wurde. Der Mißerfolg des Krieges hinterließ viel Unzufriedenheit, weshalb S. im Russisch-Türkischen Kriege von 1877 und 1878 (s. d.) erst die Feindseligkeiten gegen die Türken wieder eröffnete. Die Serben hatten unter einheimischen Feldherren (Leschjanin, Belimarković, Horwatović u. s. w.) Nisch, Pirot, Trn, Vranja und Kuršumlija erobert, als der Waffenstillstand ihrem Vormarsch ein Ende machte. Im Frieden von San Stefano wurde S. auch Novipazar zugesprochen, so daß es von Montenegro nur durch einen schmalen Landstreifen getrennt gewesen wäre. Im Berliner Vertrag erhielt S. jedoch Pirot und Vranja (die früher Bulgarien zufallen sollten), Nisch, das fortan ebenfalls Residenz und Versammlungsort der Skupschtina wurde, Leškovac und das Toplicathal, 11097 qkm mit etwa 367000 E., sowie die Unabhängigkeit, mußte dagegen auf die alten histor.
Stätten des Serbentums, das Amselfeld, Prizren u. s. w., verzichten, was ebenso wie die Occupation von Bosnien und Herzegowina durch Österreich in S. verstimmte, da damit den nationalen Aspirationen nach Westen und Südwesten ein Damm vorgeschoben wurde. Daraus ergab sich eine Mißstimmung gegen Österreich bei den Verhandlungen um Eisenbahn- und Handelsverträge, die zum Rücktritt Ristićs führte, der seit Okt. 1878 wieder Präsident des Ministeriums gewesen war.
Mit dem Kabinett Pirotschanatz, dessen Seele Milutin Garaschanin, ein Sobn des Ilija Garaschanin war, kam an Stelle der Liberalen Ristić’ Nov. 1880 die Fortschrittspartei (Naprednjaci) ans Ruder, die aus den jüngern Elementen der gebildeten Klassen bestand; in der Skupschtina bildete sich gleichzeitig eine dritte, die radikale Partei unter der Führung des Ingenieurs Paschić. 1881 genehmigte die Skupschtina einen Vertrag mit Bontoux, dem Vertreter der Pariser «Union Générale», zum Bau der Eisenbahn Belgrad-Nisch nebst der dazu erforderlichen Anleihe, im Mai einen Handelsvertrag mit Österreich.
Bald folgte ein Kirchenstreit, in dessen Verlauf Okt. 1881 der Metropolit Michael, ein liberaler Parteimann und Anhänger Rußlands, abgesetzt wurde. Ein harter Schlag war Jan. 1882 der Zusammensturz der Union Générale, worauf die Regierung den Bahnbau dem Comptoir d’escompte überließ. Ein vergeblicher Versuch, die wachsende Unzufriedenheit im Lande zu beschwichtigen, war die Proklamierung S.s zum Königreich März 1882. Nach kurzer Zeit legten 57 Radikale und Liberale ihre Mandate nieder und wiederholten dasselbe Verfahren nach den Ersatzwahlen, worauf das Ministerium die Minoritätskandidaten als gewählt in den Landtag berief, bis bei den Neuwahlen Sept. 1883 die Radikalen die Majorität erlangten.
Die Entwaffnung der Bevölkerung, die seit der Befreiung stets Waffen zu führen gewohnt war, entfachte neue Mißstimmung. Am trat das Kabinett Christić an, das mehr absolutistischen Anschauungen huldigte. Sofort brach ein Aufstand der Radikalen im Timokthal aus, der von General Nikolić rasch gedämpft wurde; von 819 Angeklagten wurden 20 erschossen, über 700 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Febr. 1884 folgte ein Ministerium Garaschanin. König Milan, der sich in den innern Wirren durch militär. Erfolge Luft schaffen wollte, benutzte die Gelegenheit der Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien, um Bulgarien den Krieg ¶