Allgemeines
Stimmrecht (franz. Suffrage universel), die Befugnis, zum Zweck der Mitwirkung bei den wichtigsten Regierungshandlungen mitstimmen zu dürfen, insofern diese Befugnis jedem Staatsangehörigen, welcher sich im Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte befindet, eingeräumt ist. Eine direkte Mitwirkung der Gesamtheit der Staatsbürger bei der Gesetzgebung und eine unmittelbare Teilnahme derselben an der Verwaltung des Staats sind selbstverständlich nur bei einem ganz kleinen Staatskörper, wie z. B. in einigen Schweizer Kantonen, möglich. In ¶
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Staatswesen von größerm Umfang, deren republikanische oder konstitutionell-monarchische Verfassung der Gesamtheit des Volks
ein derartiges Mitwirkungsrecht einräumt, kann das Volk jenes Recht nur mittelbar, d. h. durch Abordnung von Vertretern (Volksvertretern),
ausüben. Wird nun das Recht, an den Wahlen dieser Volksvertreter teilzunehmen (aktives Wahlrecht), den Staatsangehörigen unmittelbar
eingeräumt, ohne Rücksicht auf ihre bürgerliche Stellung und ohne Rücksicht auf die Abgaben, welche
sie zur Staatskasse entrichten, so spricht man von einem allgemeinen
Stimmrecht oder von einem allgemeinen
Wahlrecht oder genauer
von einem allgemeinen
gleichen und unmittelbaren Wahlrecht.
Übrigens ist die Frage, ob man das System des allgemeinen
Stimmrechts nicht auch auf andre, namentlich
auf kommunale, Wahlen übertragen solle, vielfach gestellt und teilweise auch durch die Gesetzgebung in bejahender Weise beantwortet
worden. Dabei ist namentlich zunächst der Unterschied zwischen direkter (unmittelbarer) und indirekter (mittelbarer) Wahl
hervorzuheben. Nach dem letztern System besteht zwischen den Wählern (Urwählern) und den Gewählten das Zwischenglied der
Wahlmänner, welch letztere von den Urwählern gewählt werden und dann die Abgeordneten selbst zu
wählen haben.
Das allgemeine Stimmrecht
beseitigt dieses Zwischenglied und läßt die Abgeordneten unmittelbar von den Wahlberechtigten
wählen. Dies System ist in England, Nordamerika,
[* 4] Frankreich, Belgien,
[* 5] Italien,
[* 6] in den meisten Schweizer Kantonen, in Sachsen
[* 7] und
Württemberg
[* 8] und auch für die Wahlen zum deutschen Reichstag angenommen, während das System der indirekten
Wahl in Preußen,
[* 9] Bayern,
[* 10] Baden
[* 11] und in verschiedenen deutschen Kleinstaaten zu Recht besteht. Einige Staaten, wie z. B. Österreich,
[* 12] haben ein gemischtes System.
Außerdem haben aber die modernen Verfassungsurkunden, in welchen sich zum Teil auch noch Überreste des frühern ständischen
Wahlrechts finden, vielfach den Grundsatz sanktioniert, daß nur derjenige die politischen Wahlrechte des Staatsbürgers ausüben
könne, welcher auch zu den Lasten des Staats einen verhältnismäßigen Beitrag liefere. Hiernach wird in den meisten Verfassungsurkunden
die Ausübung des aktiven Wahlrechts außer von dem Vollgenuß des Staatsbürgerrechts, wobei männliches Geschlecht der Wähler
vorausgesetzt ist, von der Selbständigkeit der betreffenden Person und besonders davon abhängig gemacht,
daß dieselbe irgend einen, wenn auch den niedrigsten, Steuersatz bezahle; so z. B. in der
preußischen Verfassungsurkunde vom § 70. Selbst die aus der ersten Revolution hervorgegangene französische
Verfassungsurkunde vom hatte die aktive Wahlfähigkeit nur demjenigen zugestanden, welcher
zum mindesten eine dem Werte dreitägiger Arbeit entsprechende direkte Kontribution entrichte. Erst infolge der Revolution von 1848 wurde
das allgemeine Stimmrecht
in Frankreich eingeführt. Noch während der Republik aber und zwar gerade deshalb, weil man den Umsturz
derselben durch das allgemeine Stimmrecht
befürchtete, wurde es wiederum abgeschafft, bis Ludwig Napoleon
dasselbe durch Plebiszit vom wiederherstellen ließ, um dann, gestützt auf das Suffrage universel, die Republik selbst
zu stürzen.
Nach dem Vorgang Frankreichs hatte auch die Frankfurter konstituierende Nationalversammlung durch Gesetz vom das allgemeine Stimmrecht
einzuführen gesucht, indem sie bestimmte, daß an den Wahlen der Abgeordneten zum Volkshaus jeder unbescholtene
Deutsche
[* 13]
nach vollendetem 25. Lebensjahr teilzunehmen befugt sein solle. Freilich war diesem Gesetz die praktische Verwirklichung
nicht beschieden; es blieb jedoch das immer entschiedener auftretende Verlangen nach Einberufung einer deutschen Gesamtvolksvertretung
auf der Basis des allgemeinen
und direkten Wahlrechts, und als nach den Erfolgen des Jahrs 1866 der Norddeutsche
Bund errichtet ward, ist dem Liberalismus von seiten der Bundesregierungen die Konzession der Aufnahme des allgemeinen Stimmrechts
in die norddeutsche Bundesverfassung vom gemacht worden.
Auch die deutsche Reichsverfassung vom (Art. 20) erklärt, daß der Reichstag aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorzugehen habe, und das zum Reichsgesetz erhobene norddeutsche Wahlgesetz vom enthält im § 1 die dem Frankfurter Wahlgesetz analoge Bestimmung, daß jeder (Nord-) Deutsche nach zurückgelegtem 25. Lebensjahr in dem Bundesstaat, in welchem er seinen Wohnsitz habe, Wähler für den Reichstag sei. Eine Ausnahme (Wahlgesetz, § 3) findet nur statt für diejenigen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallitzustand erklärt worden ist, für die unter Vormundschaft oder Kuratel stehenden Personen, für solche, die eine Armenunterstützung beziehen oder im letzten der Wahl vorhergegangenen Jahr bezogen haben, und endlich auch für diejenigen, welchen infolge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist. Es sind dies sämtlich Ausnahmen, welche bereits in dem oben angezogenen Gesetz der Frankfurter Nationalversammlung aufgestellt worden waren.
Dagegen ist eine Abweichung von dem letztern insofern bemerkenswert, als nach dem gegenwärtigen Wahlgesetz (§ 2) für Personen
des Soldatenstandes, des Heers und der Marine die aktive Wahlberechtigung so lange ruht, als dieselben
sich bei den Fahnen befinden, eine Beschränkung, welche das Frankfurter Wahlgesetz nicht enthielt, indem es vielmehr (§ 11)
die Wahl von Soldaten und Militärpersonen ausdrücklich statuierte. Endlich ist auch noch darauf hinzuweisen, daß als Gegengewicht
für das allgemeine Stimmrecht
die Diätenlosigkeit der Reichstagsabgeordneten von seiten der Bundesregierungen
festgehalten wird.
Was den innern Wert des Systems des allgemeinen Stimmrechts anlangt, so wird darüber unter den Politikern und Publizisten gestritten.
Während z. B. Lamartine das allgemeine Stimmrecht
als einen Adelsbrief bezeichnete, welchen die französische Nation 1848 unter
den Trümmern des Throns gefunden, sprechen sich andre, selbst freisinnige Männer gegen das allgemeine Stimmrecht
aus, weil es der rohen und unerfahrenen, aber zahlreichern Menge die Macht über die höhern Klassen der Gesellschaft verleihe,
die Interessen der Bildung, der Kultur und des Vermögens bedrohe und durch die Quantität der bessern Qualität der Wähler Eintrag
thue.
Die Erfahrung hat jedoch diese Befürchtungen nicht bestätigt. Es ist Thatsache, daß die Masse sich dem Einfluß der Intelligenz in der Presse [* 14] wie in der Wahlversammlung auf die Dauer nicht entzieht, und man wird mit gutem Gewissen behaupten können, wie es bereits tief in das Rechtsbewußtsein des Volks eingedrungen ist, daß einem jeden Staatsbürger als solchem das Recht zustehen müsse, zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung und bei der Kontrolle der Verwaltung des Staats seine Stimme mit abzugeben, und daß nur durch das Medium des allgemeinen Stimmrechts dieses Mitwirkungsrecht zur vollen Geltung gelangen könne. ¶